US-Präsident Barack Obama gelingt ein geschichtsträchtiger Sieg. Es ist aber nicht der große Triumph, den er sich gewünscht hat.
Washington. Enge Gefolgsleute von Barack Obama sagen, dass sie diesen Moment nie vergessen werden. Es war 16.20 Uhr am Sonntagnachmittag, als sich nach einjährigem Tauziehen und einem Wochenend-Krimi sondergleichen für den US-Präsidenten endlich ein Sieg im Ringen um die Gesundheitsreform abzeichnete. Ein zweifellos hartverdienter und geschichtsträchtiger Sieg – aber bei allem Stolz, bei aller Erleichterung doch nicht der große Triumph, den sich Obama sicher gewünscht hat.
Denn die Mehrheit, die er nach einer dramatischen Stimmenjagd hinter sich brachte, war hauchdünn, gerade ausreichend, um an einer verheerenden Niederlage vorbeizuschrammen. Ausgerechnet die eigenen Demokraten bescherten Obama eine Zitterpartie bis zuletzt und dem Land ein Bild der inneren Zerrissenheit – wie so häufig in diesem quälend langen Prozess. Und nicht nur die letzte Debatte in der Kongresskammer kurz vor den entscheidenden Voten am Sonntag führte noch einmal drastisch vor Augen, wie ideologisch tief gespalten das Land doch in dieser Frage ist. Es war auch laut zu hören, draußen vor dem Kapitol, wo Tausende Reformgegner am Wochenende noch einmal ihrem Zorn Luft machten: „Kill the bill“ – Macht das Gesetz zunichte.
Dies alles signalisiert, dass sich zwar nun der Gesetzgebungsprozess dem Ende zuneigt, aber gewiss nicht die Auseinandersetzung über die Reform. Auch dann nicht, wenn sich die Republikaner nach den zu erwartenden Störmanövern in der noch anstehenden Senatsprozedur schließlich dem Unvermeidlichen fügen müssen. Obama und seine Demokraten haben bereits einen hohen Preis zahlen müssen, und er könnte noch höher werden.
Das so lange und erbitterte Ringen um die Reform und ein wahres Geschachere in den eigenen Reihen um Vorteile und Wohltaten haben ihrem Ansehen bereits deutlich geschadet, wie unlängst die schwerwiegende Niederlage bei der Senatsnachwahl in Massachusetts widergespiegelt hat. Die republikanischen Neinsager dagegen profitierten, weil sie eine geschlossene Front präsentierten, die Ängste und die Unsicherheit im Land in eine Protestbewegung umzumünzen verstanden – die Geburt der „Tea-Party“.
Auf dieser Welle wollen die Republikaner nun in die diesjährigen Kongresswahlen reiten. Der Abgeordnete Mike Pence brachte es schon vor der Abstimmung auf den Punkt. „Ich weiß nicht, ob wir an diesem dritten Sonntag im März einen Sieg erreichen werden oder am ersten Dienstag im November“, sagte er. „Aber der Sieg kommt bestimmt.“ Auch der frühere republikanische Präsident des Abgeordnetenhauses, Newt Gingrich, meint, dass Obama und seine Demokraten ihre Reforminitiative bereuen werden. Er spricht vom „radikalsten Sozialexperiment in modernen Zeiten“ und sagt voraus: „Sie werden ihre Partei so kaputt gemacht haben wie Lyndon Johnson sie mit dem Bürgerrechtsgesetzgebung 40 Jahr lang zerstört hat.“
Es muss ein großer Wermutstropfen für Obama sein, dass all das Schlachtengetöse für viele Menschen die tatsächlichen Errungenschaften dieser anstehenden größten Sozialreform seit Jahrzehnten überlagert. Zwar hat der Präsident im Tauziehen um sein wichtigstes innenpolitisches Vorhaben auch ihm am Herzen liegende Kernpunkte wie eine staatliche Krankenversicherung opfern müssen. Doch wird das Gesetz doch einen Meilenstein darstellen.
Sage und schreibe 32 Millionen Menschen, ein Zehntel der US- Bevölkerung, waren bisher ohne Krankenversicherung – unfassbar für ein Land, das das reichste auf der Welt ist, für viele im Ausland in sozialer Hinsicht ein ebenso großer Schandfleck wie Guantánamo Bay im Rechtsbereich. Das Gesetz wird dies ändern – und so räumten ihm Experten bereits vor dem Votum einen historischen Rang ein. „Das wird als eine wirklich große Reforminitiative betrachtet werden“, sagt Präsidenten-Geschichtsforscher Robert Dallek.
Aber davon kann sich Obama jedenfalls zurzeit wenig kaufen. Mehr wohl von den Lehren aus den taktischen Fehlern, die ihn so haarscharf an den Rand einer Katastrophe gebracht haben. Dazu gehört es, so sagten viele Fernsehkommentaren an diesem dramatischen Wochenende, seinen eigenen undisziplinierten, von Eigeninteressen getriebenen Demokraten künftig Zügel anzulegen. Dass er sich ins Regieren verzettelt und darüber die Stimmung in der Bevölkerung verpasste, hat Obama ja bereits nach dem Massachusetts-Debakel begriffen. Dennoch halten viele Experten einen Aderlass im November praktisch schon jetzt für unausweichlich – der Fluch einer guten Tat.