Frankreich holt seine Soldaten Ende des Jahres aus Afghanistan zurück und verärgert damit die Nato-Partner - auch Bundeskanzlerin Merkel.

Chicago. Der neue französische Präsident François Hollande und die erfahrene deutsche Kanzlerin Angela Merkel sind noch dabei, sich kennenzulernen. Wenn dazu gehört, sich in die Lage des anderen versetzen zu können, müssten die beiden in den vergangenen drei Tagen ein gutes Stück vorangekommen sein. Denn ihnen widerfuhr beim G8-Gipfeltreffen in Camp David und beim anschließenden Nato-Gipfel in Chicago ganz Ähnliches: Während es im Camp noch Merkel gewesen war, die mit ihrem Bestehen auf einem Sparkurs in Europa allein gegen alle anderen Teilnehmer stand, so sah sich in Chicago Hollande in ähnlicher Lage: Er hat im Wahlkampf versprochen, alle französischen Soldaten bis Ende dieses Jahres aus Afghanistan abzuziehen. Das fanden weder Merkel noch der amerikanische Präsident Barack Obama, noch die Chefs der 25 weiteren Nato-Mitgliedstaaten lustig.

Denn sie haben sich, inklusive Frankreich, eigentlich darauf verständigt, bis 2014 das gefährliche Land am Hindukusch geräumt zu haben. "Wir sollten einen Abzugswettlauf in Afghanistan aus innenpolitischen Gründen vermeiden", fasste Außenminister Guido Westerwelle (FDP) die Haltung der anderen Nato-Partner zusammen. Ausgerechnet Westerwelle - schmunzelten Beobachter. Denn der Liberale hatte sich zu Beginn seiner Amtszeit noch selbst ein Hase-und-Igel-Spiel mit dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) geliefert, wer den Deutschen den frühesten Abzug versprechen könne.

Aber das ist lange her, Westerwelle hat seine Rolle als Außenminister gefunden und konnte bei seinem Herzensthema, der nuklearen Abrüstung, auf dem Gipfel sogar einen kleinen Erfolg einfahren: In einem Grundsatzpapier über die "angemessene Mischung" von atomaren und konventionellen Waffen hob die Nato erstmals die Bedeutung der Abrüstung hervor.

Von außenpolitischen Erfolgen träumt Hollande noch. Tatsächlich wird er seine Ankündigung wohl wahr machen und die 3100 in Afghanistan stationierten Soldaten bald nach Hause holen. Die Bundesregierung bemüht sich offiziell weiter darum, Frankreich an alte Versprechen zu erinnern. So sagte Merkel in Chicago: "Wir sind gemeinsam nach Afghanistan gegangen, und wir wollen gemeinsam auch aus Afghanistan wieder abziehen." Tatsächlich hatte die Regierung die Hoffnung, Hollande von seinen Plänen abzubringen, aber schon vor dem Gipfel aufgegeben.

Doch Merkel, Westerwelle und Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) wirkten nach dem Gipfel in dieser Frage weniger besorgt als vorher. Denn Hollande und seine Minister hatten zu verstehen gegeben, dass ein schnellerer Abzug und eine langfristige Verantwortung für sie keine Gegensätze darstellen. Tatsächlich sollen die Franzosen zugesagt haben, nach Abzug ihrer Kampftruppen nicht nur mit Beratern am Hindukusch zu bleiben, sondern auch weiter technische und sogar militärische Fähigkeiten einzubringen. Denn nach Beendigung des Kampfeinsatzes Ende 2014 will die Nato den demokratischen Wiederaufbau in Afghanistan mit Tausenden Ausbildern und milliardenschweren Hilfen garantieren. So haben es die 28 Staats- und Regierungschef in Chicago beschlossen.

Schon Mitte 2013 sollen danach afghanische Sicherheitskräfte - im Verbund mit der internationalen Isaf-Schutztruppe - die Kampfeinsätze gegen radikalislamische Taliban führen. Von den jährlich benötigten 4,1 Milliarden Dollar (3,2 Milliarden Euro) soll die Regierung in Kabul mindestens 500 Millionen Dollar selbst aufbringen. Von 2024 an muss sie Polizei und Armee selbst unterhalten.

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Ein Ergebnis des Gipfels war besonders wichtig: Die Nato unterzeichnete ein Abkommen mit Usbekistan. Das Land grenzt an Afghanistan und ist als Transitland für den Abzug fast unumgänglich. Bisher verweigerten die Usbeken gelegentlich Genehmigungen von Transporten oder ließen sich dafür sehr gut bis unverschämt gut bezahlen. Mit dem neuen Abkommen ist klar, dass zwar keine Waffen und keine Munition, wohl aber schweres Gerät über Usbekistan herausgebracht werden kann.

Um Einsparungen ging es beim zweiten wichtigen Thema des Gipfels: der sogenannten smart defence, zu Deutsch: kluge Verteidigung. Damit ist ein Konzept gemeint, wie die Nato angesichts schrumpfender finanzieller Möglichkeiten ihre Kampfkraft erhält. So sollen nicht mehr alle Staaten alle militärischen Fähigkeiten selbst entwickeln, sondern sich in einer internationalen Arbeitsteilung auf bestimmt Gebiete konzentrieren. Ein Problem dabei ist der deutsche Parlamentsvorbehalt, dem jede Einsatzbeteiligung unterliegt und der für die Partner Unwägbarkeiten birgt. Ein funktionierendes Beispiel ist dagegen die Luftraumüberwachung im Baltikum. So mussten Estland, Lettland und Litauen nicht selbst teure Luftwaffen anschaffen, weil die westlichen Nato-Partner ihnen seit 2005 bei der Luftkontrolle helfen.

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Die erste Phase zur Einrichtung des neuen Nato-Raketenschirms wurde außerdem beschlossen. Dabei sollen amerikanische Schiffe in Spanien mit einer Radarstation in der Türkei vernetzt werden. Bis 2020 soll durch eine Verschmelzung von Satelliten, Radaranlagen, Schiffen und Abfangraketen mehrerer Nato-Länder ein Schirm entstehen, der Europa vor möglichen iranischen Mittelstreckenraketen schützt. Russland sieht das Projekt noch immer als Bedrohung seiner Sicherheit.

Das Online-Dossier zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan unter www.abendblatt.de/afghanistan