Hamburg. Im Podcast spricht der frühere DFL-Chef über den Neustart, den Sündenfall Kalou, die Utopie eines anderen Fußballs und zwei Körbe.
Andreas Rettig hatte am Dienstagvormittag alle Hände voll zu tun. „Ich bin gerade dabei, die Dinge abzuarbeiten, die mir meine Frau auf den Zettel geschrieben hat“, witzelte der frühere Fußballfunktionär, als ihn das Abendblatt für den täglichen Telefon-Podcast „HSV – wir reden weiter“ um zwölf Uhr erreichte. Rettig, der 2013 bis 2015 Geschäftsführer der DFL und anschließend bis 2019 Geschäftsführer vom FC St. Pauli war: „Ich mache mich hier in unserer Kölner Wohnung produktiv.“
Auf eine produktive Konferenz der Ministerpräsidenten setzt der 57-Jährige auch an diesem Mittwoch. Der frühere DFL-Chef, der noch immer beste Drähte in die Zentrale in Frankfurt am Main hat, geht weiterhin von einem Bundesliga-Neustart am 15. Mai aus, wobei „die Summe der Geschehnisse der vergangenen Tage dem Fußball einen Bärendienst erwiesen“ hätten. Die zehn positiven Coronafälle unter den Profis, die Fundamentalkritik von Kölns Birger Verstraete und als Krönung am Montag das viel diskutierte Facebook-Live-Video von Herthas Salomon Kalou. „Das war nicht akzeptabel“, sagte Rettig. „Das war eine Vorlage für alle Kritiker des Systems, die sagen, dass die Fußballer in einer Parallelwelt leben mit goldenen Steaks und eingeflogenen Friseuren.“
Zu den schärfsten Kritikern des Systems Profifußball gehört seit Jahren aber vor allem Rettig selbst. Im Abendblatt-Podcast sprach sich der gebürtige Leverkusener erneut für ein radikales Umdenken der Branche aus. „Das System führt zu einer Hasardeurmentalität“, kritisierte Rettig. „Wir sollten nicht die 20 umsatzstärksten Clubs glorifizieren, das ist keine große Leistung.“ Vielmehr sollten andere Parameter als die wirtschaftliche Kraft bei der Lizenzierung berücksichtigt werden. Ein verpflichtender CSR-Mitarbeiter, der die unternehmerische Gesellschaftsverantwortung im Auge behält, zum Beispiel. Gerne auch die Bereiche Fairtrade und Umwelt.
Rettig: Fußball nicht systemrelevant
Einmal in Fahrt nahm Rettig kein Blatt vor dem Mund. „Wir schaffen die falschen Anreize“, monierte der Ex-Funktionär, der bei fünf Clubs gearbeitet hat. „Wir brauchen einen Bewusstseinswechsel. Man muss es nur wollen.“
Was Rettig auf keinen Fall will: Ähnliche Verhältnisse wie in der Premier League. „Bedenkt man, dass 15 von 20 Clubs in England Milliardären gehören, ist es kein Wunder, dass sich die Spieler dort mit einem Gehaltsverzicht schwer tun“, sagte er. „Die Krise zeigt, dass das deutsche System im Vergleich zu der aus meiner Sicht zu Unrecht gelobten Premier League große Vorteile hat.“
Rettig stand zweimal vor Wechsel zum HSV
Den Ansatz einer Taskforce Zukunft, die Rettigs DFL-Nachfolger Christian Seifert angeregt hat, befürwortete Rettig zwar. Allerdings sei er skeptisch, wenn diese nur aus Protagonisten bestehen würde, die „Profiteure dieses Systems“ seien. „Fußball ist nicht systemrelevant, allenfalls gefühlsrelevant“, sagte Rettig.
Große Gefühle hege er aber noch immer für seinen FC St. Pauli, auch wenn er ein halbes Jahr nach seinem Abschied nun einräumte, dass er gleich zweimal kurz vor einem Wechsel zum HSV stand. 2012 und 2013 verhandelte Rettig zweimal mit den jeweiligen Aufsichtsratssitzenden Alexander Otto und Manfred Ertel. Letzterer legte dem Wunschkandidaten für die Nachfolge von Frank Arnesen sogar einen unterschriftsreifen Vertrag vor. Als dieser Vorgang allerdings öffentlich wurde, sagte Rettig auf der Zielgeraden doch noch ab – und ist darüber sieben Jahre später auch nicht wirklich traurig. Aber: „Die aktuelle Führung mit Jonas Boldt und Dieter Hecking finde ich großartig“, gibt der Herzens-St.-Paulianer dann doch ganz offen und ehrlich zu. „Aus persönlicher Sympathie hoffe ich sehr, dass sie das Schiff HSV auf Kurs bringen.
Lesen Sie auch: