Hamburg. Berliner Philharmoniker in der Elbphilharmonie. Ein Gespräch mit Intendantin Zietzschmann, einst Managerin des NDR Orchesters.
Noch ist alles normal hinter den Kulissen, noch stehen in den Verwaltungs-Fluren der Berliner Philharmonie keine Instrumentenkoffer für die bald beginnende Japan-Tournee. Alltag für Andrea Zietzschmann. Einige Termine im Kalender, irgendwo in der Nähe ihres Büros übt ein Trompeter vor sich hin. Es ist ihre dritte Spielzeit als Intendantin hier, im weltberühmten Konzerthaus in der Nähe des Potsdamer Platzes.
Bis Sommer 2017, wenige Monate nach der Eröffnung eines weltberühmten Konzerthauses in Hamburg, war sie als Klangkörpermanagerin so etwas wie die Chef-Managerin des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Doch kurz vor der Eröffnung hatte sie einen folgenreichen Anruf aus Berlin erhalten. Und nun, gut zwei Jahre später: aus den Ohren, aus dem Sinn?
Hamburger Abendblatt: Wie fühlt sich das alles hier in Berlin an?
Andrea Zietzschmann: Ich bin jetzt richtig angekommen. Es ist eine wirklich tolle Institution. Ich kann unglaublich viel gestalten, habe dieses wunderbare Orchester, auf einem künstlerischen Niveau, von dem man nur träumen kann.
Aber Sie sind hier doch nur in der zweittollsten Philharmonie der Welt.
Zietzschmann: Die Berliner Philharmonie ist mit Angang 60 immer noch die Mutter aller modernen Konzerthäuser. Das Gebäude hat eine Seele, das Orchester hat es geprägt. Dieser Raum – akustisch toll und immer noch visionär - atmet Geschichte.
Jetzt ist es ja verjährt, jetzt können wir darüber reden und außerdem sind wir ja unter uns: Als man sie fragte, ob das hier für Sie interessant wäre – wie lang zögert man bei dieser Frage? Oder gab es gar kein Zögern?
Zietzschmann: Der Anruf kam wirklich zur Unzeit, wir waren mitten in den Vorbereitungen für die Elbphilharmonie. Das war wirklich eine tolle Zeit. Ich dachte: ok, ich begebe mich in den Bewerbungsprozess, war etwas zurückhaltend, und als die Zusage kam, war es nicht so, schlugen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits, dachte ich, verlasse ich dieses tolle Projekt in Hamburg zu früh. Andererseits habe ich diese einmalige Chance.
Dann muss jetzt die rhetorische Frage sein: Haben Sie es bereut?
Zietzschmann: Nein, habe ich nicht, überhaupt nicht.
Wie war es, als Sie im NDR gebeichtet haben, dass Sie auf der Elbhilharmonie-Zielgerade gehen?
Zietzschmann: Als ich das mitteilte, hatten wir schon die ersten Probentage absolviert. Das Schwierigste war, das dem Orchester zu vermitteln, die waren zunächst sehr deprimiert und hielten es nicht für ein gutes Signal. Und der Intendant sagte: Na, das ist Champions League, herzlichen Glückwunsch!
Jetzt, nach etwa drei Jahren hier, können Sie es ja abschätzen: Was kann das NDR-Orchester, was die Berliner Philharmoniker nicht können?
Zietzschmann: Gute Frage… Man hat so unterschiedliche Organisationsformen. Das Rundfunkorchester NDR hat ganz andere Aufgaben. Jedes Orchester hat seine Eigenarten, Qualitäten, Potenziale. Das ist schwer zu vergleichen.
Neuer Versuch: Was ist die Elbphilharmonie, was die Berliner Philharmonie nicht ist?
Zietzschmann: Die Elbphilharmonie ist für mich ein ganz neuer Kosmos. Die Berliner steht schon lange da, sie hat eine Geschichte. Das Publikum neu aufzubauen, das ist eine Riesenchance für die Elbphilharmonie. Die Chance, sich neu zu erfinden, ist dort einfacher.
Dritter Versuch also: Sind Sie trotz der Elbphilharmonie oder wegen des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko nach Berlin gegangen?
Zietzschmann: Ehrlich gesagt: Die Philharmonie in Berlin war immer mein Haus. Mit Abbado hatte ich hier die prägendsten musikalischen Erlebnisse. Es ist das Haus, das ich weltweit am meisten liebe. Insofern war es beides, das Haus und Kirill Petrenko.
Was muss man in Ihrem Job besonders gut können, außer nervenstark sein?
Zietzschmann: Wichtig hier ist inhaltliche Expertise. Es ist auch viel politische und Netzwerk-Arbeit zu leisten. Da bin ich immer ganz gut gewesen, während meiner Studienzeit in den USA hatte ich den Spitznamen „social hurricane“. Klar ist auch, man muss mit Zahlen umgehen und rechtliche Prozesse einschätzen können. Und: sensibler Umgang mit Menschen, mit Künstlern. Es ist ja kein Geheimnis, dass das Orchester hier mit vielen Persönlichkeiten besetzt ist.
Auf ihrem Türschild steht „Intendantin“, eigentlich müsste dort ja „Divendompteuse“ stehen, Sie haben knapp 130 von denen zu bändigen. Mit welchen skurrilen Musiker-Ideen wird man hier so konfrontiert?
Zietzschmann: Es ist hier ja viel mehr organisiert als in anderen Orchestern. Fast 40 Mitglieder sind in verschiedenen Gremien eingebunden.
Und der Diven-Charakter? In einer Tournee-Dokumentation war zu sehen, wie ein Musiker in Asien, kaum vor dem Hotel angekommen, schon in den nächstbesten Busch sprang, um seltene Schmetterlinge zu suchen.
Zietzschmann: Die Persönlichkeiten sind ausgeprägt. Man hat ganz spannenden Austausch. Gerade auf Tourneen ist das Maß an Disziplin und Konzentration erstaunlich.
Und es ist nicht wie bei jedem guten alten Wandertag: Einer verpasst den Bus, ein anderer sagt: Gestern war der Reisepass aber ganz bestimmt noch da?
Zietzschmann: Es gibt einen Reiseleiter, der aus dem Orchester kommt. Der gesamte Ablauf wird vom Orchester getragen. Was ich von früher gewohnt war – man beschwert sich von A bis Z über alles -, das findet hier kaum statt.
Die „Berliner Morgenpost“ hat sie als „uneitel“ bezeichnet. Ist das ein vergiftetes Lob oder wirklich schön? Muss man in Ihrem Job nicht eitel sein?
Zietzschmann: Ich finde, man muss eigentlich nie eitel sein für eine Position, die man innehat.
Orchester auf diesem Leistungsniveau wittern blitzschnell, was jemand kann. Waren Sie hier anfangs unter Beobachtung? Mussten Sie sich erst einmal gutstellen mit den Stammesältesten? Wurden Sie mit Fachwissen getestet?
Zietzschmann: Sie wussten, ich kenne Orchester, ich kenne das Musikbusiness. Ich brachte also Kompetenzen mit, die nicht in Frage gestellt werden. Die engste Arbeit hier ist mit den Gremien. Und ich versuche, mit vielen im Gespräch zu sein. Mir ist wichtig, dass man weiß, an welchen Themen ich gerade dran bin.
Die Frauenquote in den Chefetagen Ihrer Branche ist mehr oder weniger erschütternd. Sie haben einmal gesagt, ihnen würden gerade mal vier Frauen auf Ihrem Level in Europa einfallen. Ist das systembedingt, sind Frauen für diesen Job weniger geeignet, halten die Männer von innen die Türen zu?
Zietzschmann: Schon in der ARD habe ich immer wieder versucht Frauen in der zweiten Reihe zu motivieren, den nächsten Schritt zu machen. Man muss aber auch sagen, die Position, die ich habe, das ist alles andere als familienfreundlich. Man arbeitet tags und abends und am Wochenende und muss extrem diszipliniert und organisiert sein. Ich glaube, das hält viele davon ab, weil die Rollenverteilung in Familien oft immer noch nicht so ist, dass die Frau sich beruflich entfalten kann. Wir haben in Deutschland außer mir zwei Intendantinnen, in Lübeck und in Dresden, wenn ich mich nicht verzählt habe. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass Frauen verhindert werden. Bei den Dirigentinnen geht es sehr voran, da gibt es seit zwei Jahren einen richtigen Schwung.
Müssen Sie sich auf diesem Posten überhaupt anstrengen, um bestimmte Künstler hierher zu bekommen?
Zietzschmann: Während meiner Zeit beim HR und dann beim NDR war es oft sehr mühsam, viel unterwegs, viele persönliche Gespräche. Hier aber wollen alle dirigieren. Die Anstrengungen sind also sehr viel unaufwendiger. Und bei Gastspielen und Tourneen haben wir eine luxuriöse Situation mit Kirill Petrenko: alle wollen uns haben, auf der ganzen Welt. Wir können also aussuchen. Auf der Seite der Konzerte in der Philharmonie kann ich mich mehr austoben, und da arbeite ich besonders gern auch mit der Elbphilharmonie zusammen. Wir schauen gemeinsam, wo die spannenden Projekte sind, die Achse Berlin-Hamburg ist für mich ganz wichtig.
Es gab Zeiten, in denen die Berliner Philharmoniker Dauergäste im Hamburger Konzertleben waren, mit eigenen Reihen. Aber das war im späten 19. Jahrhundert…
Zietzschmann: Wir haben viele feste Termine übers Jahr: die Osterfestspiele nehmen einen Monat ein, im November eine lange Tournee in Übersee oder Asien. Es bleiben maximal zwei Wochen, die wir auf ganz Europa verteilen müssen oder dürfen. Da können wir nicht nur Hamburg in den Blick nehmen.
Mit etwas Abstand: Wie beurteilen Sie das Hamburger Musikleben? Das NDR-Orchester glaubt sich näher am Stand, zu dem es von Anfang an wollte. Das Image der Elbphilharmonie hat – Stichwort Jonas Kaufmann – einige Dellen, der Kartenverkauf ist nicht mehr so rasant… Wie wirkt das alles von hier?
Zietzschmann: Die Elbphilharmonie hat eine neue Zeitrechnung beim Musikleben in Hamburg ausgelöst. Sie steht programmatisch super da, man kann das mit der Philharmonie in Paris vergleichen, finde ich. Das NDR-Orchester hat mit dem Chefdirigentenwechsel eine große Chance, sich zu profilieren. Der erste Aufschlag mit Alan Gilbert fand ich in der Bandbreite toll.
So weit, dass Sie Ihr Orchester zum Üben verdonnern, weil Sie den NDR als Konkurrenz fürchten, ist es aber doch noch nicht?
Zietzschmann: So weit ist es nicht. Da hat der NDR auch noch einen ganz schönen Weg zu leisten. Die Berliner Philharmoniker sind uneingeschränkt an der Spitze.
Was haben Sie gedacht, als die Akustik der Elbphilharmonie durch die Kritik von Jonas Kaufmann zum Debattenthema wurde? Wie gut, dass ich da weg bin?
Zietzschmann: Mich hat das ein bisschen mitgenommen, den Großen Saal kenne ich nun wirklich in- und auswendig. Er hat sicher nicht so einfache Bedingungen wie die Berliner Philharmonie, aber enorme Qualitäten, ganz anders als andere Säle. Die Diskussion fand ich fatal. Man kann nicht mit einem Auftritt sagen: Die Akustik ist schlecht. Wenn man mit Sängern arbeitet, ist die Position ganz wichtig, in vielen Sälen. Dieses total erfolgreiche Projekt Elbphilharmonie schlecht zu machen, fand ich nicht gerecht.
Ihr Solo-Oboist Albrecht Mayer hat in unserem Gespräch über seinen Einstieg hier berichtet, dass das kein Streichelzoo gewesen sei.
Zietzschmann: Die Probezeiten in diesem Orchester sind wirklich extrem hart. Wir haben ja auch zwei Jahre, nicht nur eins. Das zu überstehen, ist schon eine Herausforderung.
Es klang von ihm ein bisschen wie Marines-Grundausbildung, Blut, Schweiß, Tränen satt.
Zietzschmann: Man muss schon eine gewisse Kondition haben, um diesen Alltag zu überstehen. Das hat ungeheure Härten, auch durch die Übertragung, jede Woche, in der Digital Concert Hall. Das bewundere und schätze ich an allen hier: Was sie auf der Bühne aushalten können.
Sehen Sie sich als Künstlerin oder als Kunst-Ermöglicherin?
Zietzschmann: Vor allem als Ermöglicherin, ich versuche, die besten Rahmenbedingungen zu schaffen.
Und bei gruppendynamischen Reibereien gehen Sie nicht sofort dazwischen und schlichten wie die Herbergsmutter?
Zietzschmann: Auch da ist der Selbstverwaltungsgrad im Orchester sehr hoch, die versuchen, das erstmal intern zu regeln. Bis Stress bei mir landet, muss er schon sehr groß sein. Aber ich bin durch gute und harte Schulen gegangen, das ist für mich nichts Neues.
Können Sie Ihr Orchester blind am Klang erkennen?
Zietzschmann: Die Philharmoniker würde ich sicher sofort erkennen, und sicher auch mein erstes Orchester, das Mahler Chamber Orchestra.
Themenwechsel: Orchesterführung, Stichwort Daniel Barenboim, gegen dessen Tonfall und Verhalten bei der Arbeit es hier in Berlin Vorwürfe gab. Wie sehen Sie das? Wie muss, kann, soll sich ein Dirigent benehmen?
Zietzschmann: Die Zeit hat sich so geändert, dass es sich gehört, einen offenen, guten Führungstil zu haben, als Dirigent und als Intendant oder Intendantin. Und wir haben mit Kirill Petrenko jemanden, der idealtypisch ist. Ich habe noch nie erlebt, dass er böse wird.
Wenn jetzt Barenboim hier eine Probe hätte und dort einen Solo-Bläser zusammenfalten würde, würden Sie wahrscheinlich nicht dazwischen gehen?
Zietzschmann: Es wird hier nicht toleriert, dass ein Dirigent einen Solisten faltet, ohne dass es danach ein Gespräch gäbe. Auch da ist das demokratische Grundverständnis sehr ausgeprägt. Dann sagt der Orchestervorstand: Wir haben gewisse Werte, wie wir miteinander arbeiten wollen. Man hat hier aber auch keine Angriffsflächen, die Qualität ist so toll.
Ein Vorwurf, der Paukist da hinten, der könne nichts, der…
Zietzschmann:…. der zieht hier nicht so wirklich.
Wenn Sie die Wahl haben: Laden Sie Dirigent A oder Dirigentin B ein?
Zietzschmann: Da kommt es darauf an: Mit wem arbeiten wir gern? Wir sind sehr hinterher, Dirigentinnen aufzubauen. Mit Mirga Grazinyte-Tyla habe ich zweimal gesprochen, wann sie hier endlich dirigiert, man würde sich freuen. Und sie sagte: Ich möchte noch ein bisschen Zeit haben. Bei Debüts würde ich der Frau das Prä geben, weil wir hier nicht viele Dirigentinnen haben, mit denen es feste Beziehungen gibt.
Konzert: 17.2., 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko. Strawinsky: Sinfonie in drei Sätzen, B.A. Zimmermann: Alagoana „Caprichos Brasileiros“, Rachmaninow: Sinfonische Tänze, op. 45. Evtl. Restkarten.
CD: Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6. Kirill Petrenko (Berl. Philharmoniker, ca. 20 Euro)
Playlist
- J.S. Bach, Matthäus-Passion, Eingangschor. Claudio Abbado, Berliner Philharmoniker
- Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“. Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Berliner Philharmoniker
- Bruckner Symphonie Nr. 6 (Originalfassung). Mariss Jansons, Berliner Philharmoniker
- Schumann „Dichterliebe“: „Wenn ich in Deine Augen seh“ Dietrich Fischer-Dieskau / Christoph Eschenbach
- Billie Eilish „Bad Guy“
- John Cage „“4’33“"
- Beethoven Streichquartett Nr. 16. Artemis Quartett.
- Mozart „Zauberflöte“. Claudio Abbado, Mahler Chamber Orchestra
- Wagner „Parsifal“-Vorspiel. Pierre Boulez, Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
- Brahms Klavierkonzert Nr. 2. Paavo Järvi, Nicholas Angelich, hr-Sinfonieorchester
- Xenakis „Jonchaies" Keine konkrete Aufnahme (es gibt nur wenige), live gehört
Podcast Erstklassisch
Alle Folgen sind hier online abrufbar