Hamburg. Die New Yorker Dirigentin spricht im Abendblatt-Podcast über den Werdegang von Tennis über Geige zum Taktstock und Musik als Droge.

Karina Canellakis hat gerade einen echten Lauf. Seit einigen Monaten ist die Amerikanerin neue Chefdirigentin des Radio Filharmonisch Orkest in den Niederlanden und parallel Erste Gastdirigentin des Rundfunk-Sinfonieorchesters in Berlin. Dazu kommt ein randvoller Terminkalender hier, da und dort. Doch in die sprichwörtliche Wiege wurde ihr nicht der dazugehörige Taktstock gelegt, sondern eine Geige.

Erst nach einigen Jahren in Top-Orchestern – unter anderem als Akademistin bei den Berliner Philharmonikern - merkte Canellakis, dass sie an einem anderen Notenpult richtiger wäre. Einer ihrer wichtigsten Lehrer an der Juilliard School war Alan Gilbert: wie sie aus New York, wie sie Kind einer Musikerfamilie. Jetzt ist sie zu Gast in Hamburg: Debüt-Konzert in der Elbphilharmonie, dort, wo Gilbert inzwischen Chef des NDR-Orchesters ist.

Hamburger Abendblatt: Wissen Sie noch, was Sie mit ihrer ersten Dirigier-Gage gemacht haben? Einen frischen Satz Beethoven-Partituren gekauft?

Karina Canellakis: Meine ersten Partituren waren von meinem Vater, der Dirigent ist. Bei uns lagen immer Partituren auf dem Tisch, jeden Tag. Ich komme aus einer sehr kleinen Wohnung in Manhattan, mein sehr kleines Zimmer habe ich mir mit meinem Bruder geteilt, bis zum 18. Lebensjahr. Er hat Cello gespielt. Wir hatten ein Zimmer mit zwei Klavieren, meine Mutter hat dort Unterricht gegeben. In einem Zimmer übte ich, in einem anderen mein Bruder, und in der Mitte war mein Vater, mit Partituren und Kopfhörer. Das totale Chaos, jeden Tag.

Und alle Nachbarn haben sie alle gehasst, wegen der ständigen Musik.

Canellakis: (lacht) Wir hatten Glück. Ein Nachbar, ein früherer Professor, hat fast acht Stunden am Tag Klavier geübt.

Ihre Karriere ist speziell: Jetzt sind Sie Dirigentin, sie begannen aber als Geigerin. Ist das jetzt abgeschlossen?

Canellakis: Nein, die ist für mich in einem Sinn meine Identität. Ich spiele noch, ich reise mit ihr. Ich habe keine Zeit zum Üben, aber ich vermisse sie jeden Tag. Der Wechsel zum Dirigieren war am Anfang sehr schwer, ich fand es sehr komisch, ohne Geige vor einem Orchester zu stehen.

Es kann vorkommen, dass ein Orchester schon etwas gegen einen Dirigenten hat, nachdem der gerade zum ersten Mal den Raum betrat. Da ist dann auch nichts mehr zu retten. Kennen Sie das?

Canellakis: Das ist sehr selten. Ich hatte fast nur gute Erfahrungen. Wenn man merkt, dass ein Orchester nicht gut drauf ist, kann man das nicht persönlich nehmen.

Sie kamen spät an den Taktstock. Andere Dirigenten wussten schon früh – das ist es und nichts anderes. War das kein Problem für Sie?

Canellakis: Ich hatte immer Interesse daran. Aber ich habe, als ich jung war, nie daran gedacht, eines Tages nicht mehr Geige zu spielen. Ich vermisse Streichquartette, das Gefühl, Teil eines Teams zu sein. Dirigieren ist sehr einsam. Man ist nie Teil von einer Gruppe. Das war am Anfang das Problem für mich. Und vielleicht auch, dass ich überhaupt keine Frauen dirigieren gesehen habe. Dirigentin zu sein, war nicht realistisch für mich. Ich habe auch nie unter einer Frau in einem Orchester gespielt.

Hat Ihnen nie jemand in Ihrer Familie gesagt, dass Musikerin nicht direkt der einfachste alle Berufe ist?

Canellakis: Das war jeden Tag so wichtig bei uns, dass es keinen anderen Weg gab. Mit 14 wollte ich Tennis spielen, wie Anna Kurnikowa sein. Und mein Vater hat gesagt: Wenn man Tennis spielt, ist die Karriere mit 30 beendet, was machst Du dann? Mit Musik gehe es lebenslang, es gibt immer ein Ziel. Das fand ich toll.

Kleiner Spoiler: Sie waren zwei Jahre als Akademistin – als Trainee – als Geigerin bei den Berliner Philharmonikern. Ganz wichtig für eine Geige: Man muss verschmelzen mit den anderen, eins werden. Als Dirigentin aber müssen Sie allen beibringen: Da geht‘s lang, ich will das genau so. Das genaue Gegenteil also. War dieser Mentalitätsumschwung für Sie problematisch?

Canellakis: Das war sehr schwer. Bei den Berlinern gibt es so viele individuelle Persönlichkeiten im Orchester. Es war dort ganz anders als auf der Curtis in Philadelphia, wo ich studiert habe. Ich habe die Zeit in Berlin wie eine Schule gesehen: Klang, Traditionen, Kammermusik, Konzerte mit Simon Rattle... Ich habe so viel gelernt!

Der hat Sie, so die Legende, nach einer Aufführung von Schönbergs „Verklärter Nacht“ darauf angesprochen, es doch mal mit Dirigieren zu versuchen.

Canellakis: Genau. Ich habe in den Sommern Dirigier-Meisterkurse in Bulgarien besucht. Ich weiß, lange, verrückte Geschichte… (lacht). Irgendwie hatte Simon davon gehört, dass es da diese junge Akademistin gab, die das machte. Er hilft gern jungen Leuten. Und beim Schönberg kam eins zum anderen, er wollte zumindest mal fragen, was da dran ist. Er fragte: Was willst du? Falls du dirigieren willst – ich glaube, du hast die nötigen Grundlagen; jetzt musst du die Technik lernen. Das war für mich ein großer Moment.

Sind Orchester mit Ex-Musikern auf dem Dirigentenpodest gnädiger?

Canellakis: Ich glaube, die meisten in den Orchestern, die ich dirigiere, wissen nicht, dass ich eine Geigerin bin. Die lesen keine Lebensläufe, das ist ihnen egal (lacht). Ich habe in meiner Orchesterzeit nie, wirklich nie einen Dirigenten online gesucht, um seine Biografie zu lesen. Nichts war mir egaler (lacht). Musikern ist viel wichtiger, wie die Stimmung bei der Probe ist.

Themawechsel: Die Juillard School in New York und Alan Gilbert, ihr Dirigier-Lehrer dort, jetzt NDR-Chefdirigent. Er ist auch Streicher, kommt auch aus einer New Yorker Musikerfamilie. War von Anfang an klar, dass sie auf einer Wellenlänge sind? Vor allem: Wie unterrichtet man Dirigieren? Das ist ja nicht Handwerk wie das Üben von Tonleitern. Man kann es oder nicht.

Canellakis: Alan hat dafür einen Ausdruck erfunden: Es gibt „can moves“ und „can‘t moves“ (lacht). Egal, wie brillant man denkt – manche Menschen sind physisch einfach sehr ungelenk. Man sollte nicht Dirigent werden wollen, wenn es der eigenen Natur widerspricht. Ich kannte Alan und auch seine Familie. Er war in Harvard, ist enorm belesen, sehr ausdrucksstark. Und ich hatte das Gefühl, dass er einer der wenigen Menschen auf der Welt ist, der klar artikulieren kann, was man als Dirigent tun und woran man denken soll, wenn man ein Stück zum Leben bringen will.

Ist es verkehrt zu sagen: Je besser ein Orchester ist, desto weniger braucht es noch einen Dirigenten?

Canellakis: Ich würde sagen: Es gibt Orchester, die spielen sehr gut - trotz des Dirigenten (lacht). Wenn sie ihn nicht verstehen, müssen sie aufeinander hören und es selbst machen. Ein Dirigent kann den Klang eines Orchesters komplett verändern, nur dadurch, dass er dort steht. Wenn jemand wie Blomstedt oder Haitink anwesend ist, dann gibt es unglaublichen Respekt.

Was für eine Vorlage. Blomstedt hat neulich, mit 92 gesagt, dass er sich jeden Tag wie ein Anfänger fühle. Beruhigend für Sie?

Canellakis: Ja. Was für eine schöne Idee. Es ist wunderbar. Es gibt keine Sicherheit, es gibt keine Antwort. Es gibt nicht den einen einzigen Weg. Ich habe einmal gehört, dass James Levine jedesmal eine neue Partitur gekauft hat, sobald er ein Stück wieder dirigieren sollte. Er wollte immer wieder komplett von vorn beginnen. Es gibt immer Entscheidungen, die man zu fällen hat, es gibt keine absolute Wahrheit.

Ein weiteres Special in Ihrem Lebenslauf: Einspringer-Termine. 2014 in Dallas, Sie waren gerade fünf Wochen Assistentin von Jaap van Zweden und mussten, als er krank war, ohne Probe Schostakowitschs Achte dirigieren und ein Mozart-Klavierkonzert mit Emanuel Ax. 2015 waren Sie Ersatz für Harnoncourt beim Chamber Orchestra of Europe, mit Dvorak. Sind solche Situationen das Schlimmste, was einem Newcomer passieren kann – oder das Beste?

Canellakis: Ich war in dieser Zeit sehr mutig, aber ich wollte dieses Repertoire auch unbedingt angehen. Ich wollte das so sehr! Ich war vielleicht eine junge Dirigentin, aber ich war keine junge Person. Anfang Dreißig. Ich hatte so viele Jahre Musiker-Erfahrung hinter mir, dass ich mir zumindest meiner Kenntnis der Partitur sicher war. Aber natürlich war es auch furchterregend, diese Stücke so zum ersten Mal aufzuführen. Doch ich war so aufgeregt, so voller Leidenschaft, dass es mich irgendwie durch die Musik trug.

Diese beiden Konzerte machten mein Leben zu dem, was es jetzt ist. Ich habe mir auch etwas bewiesen, besonders mit der Achten Schostakowitsch. Danach war mir klar, dass ich mehr davon wollte. Bis dahin war in meinem Hinterkopf noch der Gedanke gewesen: Okay, vielleicht teile ich mir die Aufgaben ein, oder suche mir irgendwo ein Kammerorchester. Mal abwarten. Und danach gab es nur noch: Ich muss dieses große Repertoire machen! Die Wagner-Opern, die großen Schostakowitschs, die Mahler-Sinfonien. Dieses Musik ist so überlebensgroß… wow! Ich war so hungrig danach. All mein Leiden, die harte Arbeit, die Verwirrung über meine Identität als Musikerin hatte sich bezahlt gemacht.

Also: Droge.

Canellakis: Irgendwie schon. Musik ist eine Droge.

Sie waren oft „die Erste“. Die erste bei der „First Night“ der BBC Proms. Die erste Frau, die ein Nobelpreis-Konzert dirigierte… Wäre es nicht toller, die zweite Frau zu sein, weil es dann nicht mehr so speziell ist, sondern normaler?

Canellakis: Ich dachte immer, jemand würde so etwas früher machen und ich würde folgen. Ich weiß wirklich nicht, warum das so lange gedauert hat und wäre liebend gern die Dreißigste sein, die das Orchester der Met dirigiert. Es gibt nicht viele von uns. Aber ich hatte nie mehr Kämpfe durchzustehen als Kollegen meines Alters. Es geht um die Kämpfe, die mit diesem Job verbunden sind. Denn das Leben damit ist nun mal sehr schwer. Man steht vor diesen vielen Menschen und muss einen Weg finden, der sie dazu bringt, wirklich für mich spielen zu wollen. Und man darf dabei nicht so wirken, als ob man versucht, geliebt werden zu wollen.

Und das ist sehr tricky. Es ist so sonderbar, wie jeder dieses Frauen-Thema in etwas Riesiges verwandeln will. Man bekommt dazu derart lächerliche Fragen gestellt. Aber man kann nicht einfach Frauen aufs Podest schieben, nur um damit eine 50/50-Quote zu erreichen. Dann endet man ganz schlicht mit schlechten Dirigentinnen. Es ist egal, ob man Mann oder Frau ist, es ist egal, woher man kommt. Das ist die Schönheit der Musik: Alle sind gleich, wenn man miteinander Musik macht.

Sie sind jetzt in der Karriere-Phase, in der Sie wahnsinnig viel reisen, um Repertoire-Strecke zu machen. Ist es schwer, Engagements abzulehnen? Können Sie sich das noch nicht leisten?

Canellakis: Ich bin kein Roboter, ich will auch leben. Musik ist mein Leben, natürlich, aber ich möchte auch mehr Zeit für mich und meinen Mann haben. Wir wohnen seit Juni in Amsterdam, wir haben dort noch überhaupt keine Freunde. Wenn man immer unterwegs ist, ist das Leben sehr schwer. Was in dieser und in der nächsten Saison ansteht, ist außergewöhnlich, und es ist sehr schwer, nein zu sagen. Aber es ist unbedingt notwendig. Es ist kein Problem. Es ist ein gutes Dilemma. Viele wären neidisch und ich finde so etwas nicht selbstverständlich. Aber man bezahlt einen hohen Preis.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Canellakis: Es wäre sehr schön, wenn ich ein bisschen mehr Oper machen könnte: den „Ring“, „Tristan“, all die kleinen Dinge (lacht), Strauss, Britten, Puccini… Und dazu gesunde Beziehungen mit Orchestern, die ich liebe. Aufregende Projekte. Das beginnt jetzt, das macht mich froh.

Können Sie sich noch vorstellen, wieder zurück ins Orchester zu wechseln?

Canellakis: Nein, dafür ist es viel zu spät. Ich denke nicht mehr wie eine Geigerin, ich bin jetzt eine Dirigentin. Dann gehen einem unentwegt Musikstücke durch den Kopf. Auch jetzt, während wir sprechen, denke ich darüber nach, wie ich mit dem Lutoslawski-Konzert klar komme, das morgen in der Probe dran ist. Wenn man Dirigent wird, wird man wirklich durch und durch Dirigent. Man wird die Musik. Man muss sie sein, sobald man vor dem Orchester steht.

Also: Entweder spielt man Geige oder nicht - aber Dirigent ist man immer?

Canellakis: Ich glaube, ja. Es gibt kein Zurück. Das wäre ein Fake.

Konzert: 12. Januar, 11 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Werke von Webern, Beethoven und Lutoslawski. Solisten: Christian Tetzlaff (Violine), Tanja Tetzlaff (Violoncello), Lars Vogt (Klavier). Evtl. Restkarten.

Playlist

  • Strauss „Vier letzte Lieder“: "Im Abendrot“ Jessye Norman, Kurt Masur, Gewandhausorchester Leipzig
  • Mozart "Don Giovanni“ 2. Akt: „Don Giovanni, a cenar teco...“. René Jacobs, Freiburger Barockorchester
  • Bartók Streichquartett Nr. 2 Sz. 67, 2. Satz: Allegro molto capriccioso. Tacász Quartet
  • Nikolaus Harnoncourts Beethoven-Zyklus mit dem Chamber Orchestra of Europe, insbesondere die „Eroica“
  • Wagner "Tristan und Isolde“: Liebestod: "Mild und leise wie er lächelt“, Jessye Norman, Herbert von Karajan, Wiener Philharmoniker.
  • Mahler "Rückert Lieder": "Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Kathleen Ferrier, Bruno Walter, Wiener Philharmoniker
  • Beethoven Streichquartett Nr. 13 op. 130: Cavatina. Guarneri Quartet
  • J.S. Bach „Johannes-Passion“: „Herr, unser Herrscher“ John Eliot Gardiner, Monteverdi Choir, English Baroque Soloists