Hamburg. UKE-Infektiologin Marylyn Addo hat eine klare Ansicht zum derzeit umstrittenen Corona-Impfstoff – und macht Mut.
Deutschland diskutiert über die Corona-Impfstoffe – und die Frau, die sich mit am besten damit auskennt, fragt sich, warum. In der Abendblatt-Podcastreihe Entscheider treffen Haider ist heute Infektiologin Marylyn Addo zu Gast: Mit Chefredakteur Lars Haider spricht sie über Wirkungsgrade und Nebenwirkungen, Impfungen für Kinder, Virusvarianten – und wie sie sich bei all dem ihre Zuversicht erhält.
Das sagt Marylyn Addo über …
… die deutsche Diskussion über Impfstoffe:
Ich finde, dass wir in der zum Teil sehr negativ geführten Debatte über die Impfstoffe bedenken müssen, dass wir eigentlich glücklich sein können, nach einem Jahr Pandemie drei Impfstoffe zur Verfügung zu haben. Wir hatten gehofft, dass sie einen Wirkungsgrad von mindestens 50 Prozent haben würden, tatsächlich liegt er bei allen weit darüber – das müssten wir mehr zelebrieren. Für ein Virus wie Sars-CoV-2 einen Wirkstoff zu haben, der zu 70 bis 95 Prozent vor einer Erkrankung schützt, ist großartig. Die Grippeimpfstoffe kommen je nach Jahr auf eine Wirksamkeit zwischen 40 und 70 Prozent. Entscheidend für die Bewertung aller drei Corona-Impfstoffe ist, dass sie zu nahezu hundert Prozent vor einem schweren Verlauf im Fall einer Erkrankung schützen. Grundsätzlich ist Impfen generell neben sauberem Wasser die Intervention, die überall auf der Welt am meisten Leben gerettet hat und weiter rettet.
… Nebenwirkungen einer Impfung:
Ich bin überrascht, wie emotional über die Nebenwirkungen der Impfstoffe diskutiert wird. Wir klären sehr genau darüber auf, und alle Nebenwirkungen, die aufgetreten sind, sind vorher in den Studien erwähnt worden, da ist ja nichts Unerwartetes passiert. Darüber hinaus werden die Nebenwirkungen aller drei zugelassenen Impfstoffe sehr engmaschig von der Bundesoberbehörde, dem Paul-Ehrlich-Institut, überwacht.
Addo: Biontechs Corona-Impfstoff ein Durchbruch
… mRNA-Impfstoffe, wie etwa der von Biontech:
Diese Impfstoffe sind ein großer Durchbruch, auch weil sie innerhalb von ca. sechs Wochen an ein sich veränderndes Virus angepasst werden können. Das ist zwar auch mit den herkömmlichen Vektor-Impfstoffen möglich, aber hier dauert es etwas länger. In der Zukunft kann es sogar so sein, dass man die beiden Impfstoffarten kombinieren wird. Erst bekommt man einen mRNA-Impfstoff, dann als Auffrischung einen Vektor-Impfstoff, oder umgekehrt. Dazu laufen derzeit wissenschaftliche Studien.
… die Impfung von Kindern:
Bei Impfstudien dürfen schwangere Frauen und Kinder nie in den ersten Studien eingeschlossen werden. Das geht in der Regel erst, wenn Sicherheitsdaten von Erwachsenen vorliegen. Jetzt laufen erste Impfstudien mit Kindern an, etwa von Biontech, auch AstraZeneca hat eine Studie angekündigt. Ich glaube aber nicht, dass man Kinder noch in diesem Jahr großflächig impfen können wird. Und es stellt sich ja auch die Frage, was das Ziel unserer Impfstrategie ist. Im Moment geht es vornehmlich darum, das Gesundheitssystem zu entlasten, deshalb impfen wir die Älteren, die öfter schwere Verläufe haben und ins Krankenhaus müssen. Bevor wir die Kinder impfen, sollten wir besser verstehen, ob die Impfstoffe davor schützen, sich überhaupt zu infizieren und das Virus weiterzugeben. Wenn die Impfstoffe vor allem dafür sorgen, dass man keine schweren Verläufe bekommt, ist ihr persönlicher Nutzen für Kinder nach heutigem Kenntnisstand noch begrenzt – denn die kriegen ja bereits jetzt in der Regel keine schweren Verläufe. Deshalb ist die Reihenfolge, wie wir jetzt impfen, sinnvoll.
… den Impfstoff, an dem Sie selbst im UKE forschen:
Wir haben eine Schleife drehen müssen, weil die Immunantwort unseres Vektorimpfstoffs nicht so ausgefallen ist, wie wir das erwartet hatten. Momentan arbeiten wir an einem optimierten Impfstoff und rechnen damit, dass wir im Frühjahr wieder in die klinische Erprobung einsteigen. Vom Sicherheitsprofil könnte unser Impfstoff einer sein, der auch für kleine Kinder gut geeignet ist. Unter anderem deshalb lohnt es sich, diesen Weg weiterzugehen.
Corona: Was Addo von Drosten unterscheidet
… den Unterschied zwischen Virologen (Christian Drosten) und Infektiologen, wie Sie eine sind:
Virologinnen und Virologen (Mediziner oder Biologen) machen in der Regel wichtige Diagnostik und Forschung, sehen aber keine Patienten. Wir Infektiologinnen sind meistens Internisten und klinisch aktiv, das heißt, ich forsche, leite aber auch eine klinische Abteilung und sehe zum Beispiel während der Pandemie auch Covid-19-Patienten im Krankenhaus auf unserer Infektionsstation.
… Ihre durch Corona noch einmal gestiegene Bekanntheit:
Es ist für mein Team und mich eine neue Erfahrung, dass unsere Arbeit so genau von der Öffentlichkeit verfolgt wird. Wir versuchen, uns auf unsere Aufgaben zu fokussieren und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Alles andere muss sich dahinter einreihen. Deshalb muss ich den größten Anteil der Interview-Anfragen absagen. Und was die Reaktionen angeht: Ich habe natürlich auch in meinem E-Mail-Eingang mal böse, mal gut gemeinte, mal wertschätzende, mal verrückte Zuschriften, und ab und an sind auch Drohungen dabei. Vor Kurzem hat mir jemand ein Bild von dem Plakat zur Impfkampagne geschickt, das im Moment überall in der Stadt hängt. Dort ist ein Foto von mir zu sehen, auf der der Absender ein Kreuz und das Wort „Tod“ geschmiert hat. Und gerade am vergangenen Wochenende wollte mich ein Hamburger Mitbürger im Corona-KZ sehen. Da werden oft schon klare Grenzen überschritten.
… die Frage, wann Sie das erste Mal wussten, dass aus dem Coronavirus eine Pandemie werden würde:
Wir mussten uns im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung, wo ich mich zusammen mit Kollegen wie Christian Drosten oder Stephan Becker aus Marburg mit neu auftretenden Viren beschäftige, kurz vor der Pandemie der Frage stellen, warum wir das eigentlich tun. Daran musste ich in den vergangenen Monaten oft denken … Zu Beginn der Corona-Krise habe ich wie so viele gedacht, dass das alles so ähnlich verläuft wie z. B. damals bei MERS. Ich hatte eine solche Pandemie noch 2019 nicht erwartet, obwohl ich seit Jahren davor warne, dass etwas wie die Grippewelle von 1918/19 noch einmal kommen könnte. Als es in China losging, habe aber auch ich es zunächst nicht erkannt – das begann erst, als das Coronavirus zum ersten Mal in Deutschland nachgewiesen worden war. Da wusste ich, dass das nicht mehr aufzuhalten ist.
… Ihre Zuversicht und Besonnenheit, die Sie sich auch in der Pandemie erhalten haben:
Grundsätzlich finde ich, dass man in einer solchen Situation, wie wir sie gerade erleben, ruhig und besonnen bleiben muss. Es hilft nichts, wenn man dann panisch wird, man braucht einen kühlen Kopf, um durch diese schwierige Zeit zu navigieren. Dazu kommt, dass es auf der Welt ja schon viele Pandemien gegeben hat, die aber alle auch wieder überwunden wurden. Die sogenannte Spanische Grippe von 1918 etwa ist nach zwei Jahren und drei Wellen zu Ende gegangen, obwohl es keine Impfung und bei Weitem nicht die technischen Möglichkeiten gab, die wir heute haben. Das ist nicht alles eins zu eins vergleichbar, soll aber heißen: Wir kommen da wieder raus. Das zu wissen, macht mich zuversichtlich. Mithilfe der Maßnahmen und Impfungen werden wir in eine postpandemische Phase eintreten, in der das Virus sehr wahrscheinlich mehr oder weniger ein saisonales Erkältungsvirus sein wird.
Addo sorgt sich über Corona-Mutanten
… die Veränderung der Covid-19-Patienten im Krankenhaus:
In der ersten Welle waren bei uns fast nur Menschen mit Covid-19 auf der Station, die symptomatisch schwer erkrankt waren. Im Moment betreuen wir immer öfter auch Patienten, die wegen einer anderen Erkrankung in die Klinik gekommen sind, zum Beispiel wegen einer Knieoperation, und bei denen dann durch Zufall beim Aufnahme-Screening eine asymptomatische Infektion festgestellt wurde.
… die neuen Virusvarianten:
Ohne die neuen Varianten könnten wir wahrscheinlich relativ entspannt auf die kommenden Wochen blicken, ich hatte in meiner Fantasie zwischenzeitlich sogar mal auf Skiurlaub gehofft. Wir müssen die Entwicklungen der Mutationen engmaschig beobachten, und deshalb müssen wir konsequent bei der Befolgung der AHA-Maßnahmen bleiben: Denn die wirken auch bei den Varianten. Es wird in den kommenden Wochen extrem wichtig sein, dass wir die Infektionsketten schnell nachverfolgen und eindämmen können, um nicht in eine dritte Welle zu kommen. Wir tun gut daran, wenn wir versuchen, die Zahl der Neuinfektionen und die Inzidenz so weit es geht, nach unten zu drücken und jetzt noch ein wenig durchzuhalten. Es wäre so schade, wenn wir unsere Erfolge der vergangenen Wochen auf den letzten Metern verspielen würde. Ich vergleiche das immer mit unserem Weltumsegler Boris Herrmann, der kurz vor dem Ziel mit einem Fischerboot zusammengestoßen ist – das hat mir fast das Herz gebrochen.
… Deutschlands Weg durch die Pandemie:
Ich bin beeindruckt, was die Gesellschaft im vergangenen Jahr für eine Disziplin aufgebracht hat. Deutschland hat Bestnoten in der ersten Welle bekommen, die zweite Welle wird von außen durchaus kritischer angeschaut. Aber wir haben zu keinem Zeitpunkt der Pandemie zu wenig Krankenhausbetten gehabt, das Gesundheitssystem war nie überlastet, auch wenn vom Personal eine gigantische Kraftanstrengung abverlangt wurde.
… Wissenschaftlerinnen in der Krise, die (wieder einmal) in der Minderheit sind:
Die Pandemie hat auf vielen Ebenen genau die Finger in die Wunden der Gesellschaft gelegt. Wir haben vorher schon darüber gesprochen, dass es zu wenig Frauen in Führungspositionen gibt, aber durch Corona ist es noch mal sichtbarer geworden. Mich hat die Debatte im vergangenen Jahr, warum denn so wenig Expertinnen sichtbar seien, manchmal irritiert: die Expertinnen, das sind oft berufene Professorinnen. Wie viele berufene Professorinnen gibt es? 20 bis 25 Prozent. Da kann man nicht überrascht sein, wenn nicht gleichviele Männer und Frauen in Talkshows sitzen. Natürlich müssen wir daran arbeiten, dass sich das ändert, und uns bemühen, dieses Ungleichgewicht in unserer Gesellschaft in allen Bereichen anzugehen.