Berlin. Der „ZDF Magazin Royal“-Moderator räumt Preise über Preise ab. Dennoch wird er von vielen verkannt. Das Geheimnis des Regelbrechers.
Der Moderator stand in der Küche und bereitete das sonntägliche Abendessen für die Familie vor. Um drei Minuten nach sechs vibrierte sein Smartphone. Unbekannte Nummer. Nanu, wer ruft zu dieser Unzeit an? Es meldete sich Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, engster Vertrauter und erster Feuerwehrmann von Olaf Scholz. Gewohnt jovial bot Schmidt ein Hintergrundgespräch zum lästigen Cum/Ex-Komplex an, der den Kanzler seit Hamburger Zeiten verfolgt. 42 Minuten dauerte das Gespräch, das Jan Böhmermann wie ein Journalist bestritt: Er verwies auf den Dienstweg. Eine offizielle, aber bislang unbeantwortete Anfrage läge dem Kanzleramt vor, und die möge bitte offiziell beantwortet werden.
Jetzt wusste der Spaßvogel, dass sein Team mit seinen Recherchen auf einem guten Weg war. Denn die Ehre eines privaten Anrufs vom Kanzleramtschef hat weniger mit Sympathie zu tun als mit der Abwehr von Ärger. Für Böhmermann ist eine Woche ohne Ärger eine verlorene Woche. Den Beitrag über die „Leiche im Keller von Olaf Scholz“ mit der bewährten Mischung aus Pennälerhumor und harten Fakten sahen allein auf YouTube 1,3 Millionen Zuschauer. Während Böhmermann den einen als Sinnbild des dekadenten Westens gilt und als bester Grund, den Rundfunkbeitrag abzuschaffen, gilt er anderen als Demokratieverstärker, der strittige Themen in den Debattenraum bugsiert.
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Es soll ja Menschen geben, die Jan Böhmermann (43) immer noch für einen Spaßvogel halten, weil er sich selbst kokett als Hanswurst definiert, der Unangenehmes in Spaß verpackt. Welch ein Irrtum: Er hat seit 2009 sechs Deutsche Fernsehpreise und acht Grimme-Preise gewonnen, war dreimal Journalist des Jahres, wurde von der Emma 2023 zum Sexist Man Alive gekürt, nahm 30 Singles auf und betreibt mit dem Musiker Oli Schulz „fest und flauschig“, einen der reichweitenstärksten Podcasts Europas. Beide moderieren auch beim ESC. Seine liebevoll gebaute TV-Show „Lass dich überwachen“ über digitale Jugendsünden gewann dieses Jahr, na was wohl, den Fernsehpreis und verblüffte sogar Böhmermann-Hasser. Denn der oftmals erbarmungslos Giftige erwies sich als feinfühliger Moderator.
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Böhmermann hat sich in elf Jahren und rund 300 Folgen Neo Magazin Royal und ZDF Magazin Royal gewaltigen politischen Wumms erscherzt, weil er mit den Regeln brach. Während politische Magazine unheiligen Ernst verströmen, setzt Böhmermann auf heiligen Spaß. Seine Redaktion, 25 Menschen, sind in U-Team und E-Team geteilt. E steht für Ernst und meint die harten Fakten. U steht für Unterhaltung und soll E-Themen heiter vermitteln. Findet das U-Team keinen Dreh, ist das E-Thema gestorben. Traditionsreporter zucken zusammen: Darf man sowas Ernstes wie Politik verjuxen? Man muss sogar, findet Böhmermann: Spaß ist die Rutsche für den Ernst.
Beim Cum/Ex-Beitrag etwa wurde dem Moderator ein Leichensack auf den Schreibtisch geworfen. Ein schrundiger Arm ragte heraus, während Böhmermann einen Wust von Ungereimtheiten vortrug, 20 Minuten lang. Was gemeinhin als Quotengift gilt, funktioniert bei Böhmermann, ob die weltweite Sandkrise, nieder gesparter Lokaljournalismus, die Geschäfte ehemaliger Geheimdienstchefs, üble Machenschaften der Yellow Press oder Steueroasen im Sachsenwald.
Böhmermanns Konzept: Ein Mix aus Flach- und Tiefsinn
Als es um den weltweiten Kampf um Trinkwasser ging, sprudelte zwanzig Minuten lang ein Wasserhahn – wenig, was die deutsche Seele mehr in Wallung bringt, auch wenn eine Umwälzpumpe lief. Jüngster Höhepunkt war Böhmermanns Solo über die Verwüstungen, die Smartphones in unseren Leben anrichten, eine surreale Nummer, die mit Aufmerksamkeitsspannen, Erwartungen und Ablenkungen spielte – Mediengold, das nur die Mutigen schürfen.
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Böhmermann hat früh kapiert, dass Nachrichtenjournalismus an seine Grenzen stößt, weil nicht nur Donald Trump pfiffig mit den Medienmechanismen spielt. Wer verfällt in einer vielschichtigen Realität noch der Eindeutigkeitsillusion einer Tagesschau? Auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden, mixt Böhmermann Flach- und Tiefsinn, frei nach dem alten Medienmotto: Erst die Kirche vollmachen, dann predigen. An guten Tagen toppt er sein US-Vorbild John Oliver, an schlechten immer noch die meisten Leitartikler. Dass er auch zu stringentem Schreiben in der Lage ist, bewies Böhmermann diesen Spätsommer mit einem provozierenden Essay in der „Zeit“ über die Gesellschaft von Morgen.
Der Druck, jede Woche einen Knaller präsentieren zu müssen, führt bisweilen ins hohe Gras. Progressive wie Kollegen nehmen es Böhmermann übel, dass er den bunten Vogel Fynn Kliemann wegen zweifelhafter Maskengeschäfte hochnahm, ausgerechnet der offenbar harmlose Kliemann, der mit seinem Podcast-Kumpel Schulz befreundet ist. Würde der bedenklich ehrgeizige Böhmermann für eine Story seine Oma verkaufen? Oder ist er unbestechlich? Manchmal stimmt beides.
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Die bislang ernsteste Krise, sieht man von Varoufake und dem Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Erdogan ab, verursachte ein Beitrag im Herbst 2022 über Arne Schönbohm, ehemals Leiter des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Nach einem Böhmermann-Beitrag über Russlandkontakte rund um das BSI wurde Schönbohm von Bundesinnenministerin Nancy Faeser kaltgestellt. Weil sich die Vorwürfe als haltlos erwiesen, klagt Schönbohm gegen das ZDF auf 100.000 Euro Schmerzensgeld. Bleibt die Frage, warum Faeser dem BSI-Chef nicht bis zur Klärung der Vorwürfe die Treue hielt.
Jan Böhmermann: Auch die Öffentlich-Rechtlichen belohnen seine Risikofreude
Es gehört zu den Mysterien der Medienwelt, dass Böhmermanns Aufstieg praktisch parallel zur Karriere von Norbert Himmler verlief, der ungefähr dann als Freier beim ZDF begann, als Böhmermann für den Weserkurier seinen ersten Artikel über eine litauische Folkloreband anfertigte. Inzwischen ist Himmler Intendant des Senders und Böhmermann sein Star. Himmler hielt trotz, oder wegen, allen Ärgers stets zu seiner Krawallschachtel. Verrückte Medienwelt: Böhmermann beendet nicht nur Karrieren, und die Öffentlich-Rechtlichen belohnen bisweilen Risikofreude.
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