Berlin. Jahrzehnte lang verschollen: Plötzlich ist der 900 Jahre alte Altar in der Grabeskirche in Jerusalem aufgetaucht und löst Rätsel.

Der 15. Juli 1149 war ein bedeutender Tag für Jerusalem: Genau 50 Jahre zuvor hatten europäische Kreuzritter die Heilige Stadt blutig und brutal erobert und das Königreich Jerusalem nach langer muslimischer Herrschaft gegründet. Ein glanzvolles Jubiläum sollte das junge Königreich weiter festigen. Der Höhepunkt war die erneute Weihe der Grabeskirche, eines der größten Heiligtümer des Christentums. In diesem prachtvoll erweiterten Bauwerk erstrahlte ein neu geschaffener Hochaltar. Er war ein Zeichen der Macht und der christlichen Herrschaft in der Heiligen Stadt.

„Obwohl der Altar über Jahrhunderte hinweg großen Eindruck hinterließ, verschwand er plötzlich aus dem Bewusstsein der Menschen“, erklärt Ilya Berkovich, Historiker an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), in einer Mitteilung. Denn im Jahr 1808 zerstörte ein verheerender Brand große Teile des romanischen Teils der Grabeskirche. „Seitdem galt der Kreuzritter-Altar als verloren“. Es gab keine Spuren des Altars, für Historikerinnen und Archäologen blieb es ein Rätsel.

Altar wurde mit Graffiti geschmückt

Vor Kurzem gelang es den Archäologen dann: In einem hinteren Korridor der Grabeskirche stießen sie auf eine mehrere Tonnen schwere Steinplatte, die bisher unbeachtet an einer Wand lehnte. Typisch für touristische Orte, hatten sich hier Besuchende mit Graffiti verewigt. Als die Platte bei Bauarbeiten umgedreht wurde, enthüllte sie den prachtvoll verzierten Kreuzritter-Altar.

Grabeskirche Israel Jerusalem Christentum
Die Grabeskirche in Jerusalem ist Jahr für Jahr das Ziel zahlreicher Pilger. © iStock | Ben185

„Für Historiker:innen stellt diese Entdeckung in mehrfacher Hinsicht eine Sensation dar“, heißt es in der Mitteilung. Erstaunlich ist, dass die Platte in einem so intensiv erforschten Bauwerk wie der Grabeskirche so lange verborgen bleiben konnte, obwohl sie täglich im Blickfeld Tausender Pilger und Touristen lag. „Dass an dieser Stelle etwas so Bedeutendes so lange unerkannt blieb, war für alle Beteiligten völlig unerwartet“, bestätigt Berkovich.

Dabei fällt den Wissenschaftlern eine besondere Verzierung auf. Sie führten die Forscher auf die Spur des sogenannten Kosmatesk, einer speziellen Fertigungstechnik von Marmordekorationen. Sie wurde ausschließlich von Meistern im päpstlichen Rom beherrscht. Die Technik zeichnet sich dadurch aus, dass mit kleinen Marmorsplittern große Flächen dekoriert wurden, um geometrische Muster und schillernde Ornamente zu erzeugen.

Altar enthüllt erstaunliche Verbindung

Der Wert dieser Kunst war ihren Meistern und dem Papst wohl bewusst. Nur wenige Kosmatesk-Kunstwerke sind außerhalb Roms bekannt – bisher gab es nur eines außerhalb Italiens in der Westminster Abbey . Auch der in Jerusalem wiederentdeckte Kosmatesk-Altar muss unter dem Papst entstanden sein: Indem er Kosmatesk-Meister in das Königreich Jerusalem sandte, zeigte er den Anspruch der Christen auf die Stadt. „Der Papst würdigte damit die heiligste Kirche der Christenheit“, sagt Berkovich.

Der wiederentdeckte Hochaltar ist also der Beweis einer bisher unbekannten Verbindung zwischen Rom und Jerusalem, die auch für die europäische Kunstgeschichte von großer Bedeutung ist. „Mit einer ursprünglichen Breite von mehr als 3,5 Metern haben wir hier den größten mittelalterlichen Altar entdeckt, der derzeit bekannt ist“, betont Berkovich. Der Forscher hofft, dass weitere Untersuchungen in den päpstlichen Archiven zusätzliche Details über die Entstehungsgeschichte des Altars enthüllen können – möglicherweise sogar die Identität des Kosmatesk-Meisters, der das Kunstwerk schuf.

Grabeskirche ist jährlich Ziel hunderttausender Pilger

Die Grabeskirche, liegt im christlichen Viertel der Altstadt Jerusalems und wird seit dem Sechstagekrieg 1967 von Israel verwaltet. Sie wurde ursprünglich im Jahr 325 n. Chr. unter der Ägide von Helena, der Mutter des römischen Kaisers Konstantin, errichtet. Überliefert wird, dass sich die Kirche an dem Ort befindet, wo Christus nach seiner Kreuzigung begraben wurde und von den Toten auferstand. Orthodoxe Christen nennen sie auch Auferstehungskirche (Anastasis).

Im Jahr 1099 übernahmen europäische Kreuzritter während des Ersten Kreuzzuges Jerusalem von der muslimischen Herrschaft. Der Sieg war der Beginn des christlichen Königreichs Jerusalem, das bis 1291 bestand. Nach der muslimischen Rückeroberung 1187 war die Grabeskirche bis ins 15. Jahrhundert nur für Geistliche zugänglich, während Pilger nur zu Ostern kamen. Heute ist die Kirche ein wichtiger Wallfahrtsort, der jährlich Hunderttausende Pilger anzieht.