Berlin. „Survival of the fittest“? Nicht immer: Die Überreste eines Neandertaler-Kindes mit Down-Syndrom zeugen von fürsorgenden Frühmenschen.
Eine Gesellschaft wird heutzutage daran gemessen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Werden alte Menschen versorgt? Gibt es genug Schlafplätze für Wohnungslose? Können Menschen mit Behinderung am sozialen Leben teilhaben? Lange nahmen wir Homo sapiens diese Formen der Fürsorge nur für unsere Art in Anspruch. Bei Affen und anderen Menschenarten gelte das Prinzip „Survival of the fittest“. Doch neue Gen-Analysen eines Neandertalers offenbaren Erstaunliches.
Demnach wiesen die Überreste eines Neandertaler-Kindes Fehlbildungen auf, wie sie bei Menschen mit Down-Syndrom typisch sind. Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt, ist eine Chromosomenanomalie, von der auch unsere prähistorischen Artverwandten, die Neandertaler betroffen waren. Ein Umstand macht den Fund aus der Höhle Cova Negra in Spanien jedoch besonders außergewöhnlich: das Alter des Kindes.
So zeigen historische Fälle zeigen, dass Neandertaler-Kinder mit ähnlichen Behinderungen oft nicht älter als 16 Monate wurden. Das Kind aus der Höhle wurde allerdings sechs Jahre alt. Doch hatte das Kind wirklich Down-Syndrom?
- Dank geheimer Fotos: Polizei findet prall gefülltes Schatz-Grab
- Polen: Archäologen lösen 400 Jahre altes Rätsel um „Vampirfrau“
- Unterwasser-Archäologie: Wrack von legendärem U-Boot aus Zweitem Weltkrieg gefunden
- Kannibalismus: Archäologen machen schaurige Entdeckung in Jamestown-Kolonie
- Altes Ägypten: Krebsoperationen schon vor 4300 Jahren?
Down-Syndrom bei Neandertalern: Knochen des Kindes weisen typische Fehlbildungen auf
Der Fund am Rande von Valencia war ein Glücksfall. Mercedes Conde-Valverde und ihr Team von der Universität Alcala untersuchten im Rahmen einer Nachuntersuchung Neandertalerfossilien, die 1989 bei Ausgrabungen in der Höhle gefunden worden waren. Dabei fiel besonders das Knochenfossil eines etwa sechsjährigen Kindes auf, das durch Computertomografie und den Vergleich mit anderen Fossilien als Neandertaler identifiziert werden konnte.
Die Knochen des Kindes wiesen auffällige angeborene Fehlbildungen wie eine verkleinerte Hörschnecke und einen verbreiterten seitlichen Bogengang auf, die dem Down-Syndrom ähneln. „Das einzige Syndrom, das mit der Gesamtheit der vorhandenen Fehlbildungen kompatibel ist, ist das Down-Syndrom“, wird Erstautorin Conde-in der Fachzeitschrift „Science Advances“ zitiert. Eine geplante DNA-Untersuchung soll bestätigen, ob das Kind das für das Down-Syndrom typische zusätzliche Chromosom 21 hat.
Anhand der Knochenveränderungen konnten die Forscher jedoch bereits auf zahlreiche Einschränkungen des Kindes schließen, darunter Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund eines Hörverlusts sowie Gleichgewichtsprobleme, die das Laufen erschwerten. Trotz dieser Schwierigkeiten erreichte das Kind ein Alter von etwa sechs Jahren, was nach Ansicht der Archäologe für prähistorische Zeiten ungewöhnlich ist und auf eine intensive Pflege durch seine Mitmenschen hindeutet.
Auch spannend: Kein Fell: Älteste Menschen weniger behaart, als vermutet
Archäologie: Gemeinschaft sorgte sich gemeinsam um das Neandertaler-Kind
Bleibt die Frage, wie die Neandertaler das Kind mit Down-Syndrom versorgen konnten. Der Alltag der Frühmenschen war anspruchsvoll und von hoher Mobilität geprägt. Kaum vorstellbar, dass eine Mutter nebenbei noch Zeit für die aufwendige Pflege hatte. Conde-Valverde ist deshalb überzeugt: „Das war nur möglich, weil die Gruppe der Mutter kontinuierlich geholfen hat. Möglicherweise praktizierten die Gruppenmitglieder eine gemeinschaftliche und uneigennützige Pflege, die der modernen menschlichen Fürsorge ähnelt.
Damit stellt der Fund nach Ansicht der Forscher bisherige Annahmen infrage, wonach sich Neandertaler nur dann um Schwache kümmerten, wenn sie selbst davon profitierten. Gerade bei Kindern treffe dieses Argument nicht zu. Conde-Valverde betont zudem die Bedeutung des Fundes, da sich die Diskussion um die Fürsorge bei Neandertalern bisher vor allem auf erwachsene Neandertaler konzentriert habe. Zwar gebe es einen früheren Fund eines Neandertaler-Kindes mit einer Fehlbildung, der sogenannten Kraniosynostose, doch sei dort das Ausmaß der Behinderung und der Pflegebedarf nicht zweifelsfrei geklärt.
Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht.
Lesen Sie auch: Ältester Wein der Welt enthält eine grausige Zutat