Seit die Wirtschaftswunder-Deutschen die Adria entdeckten, wurde er zur meistbenutzten Alpen-Querung. Ein Mythos war er schon zur Römerzeit.


Hamburg. "Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben", notiert Goethe am 8. September 1786 abends auf dem Brenner. "Auf den gebahntesten Wegen steigt man eine Schlucht herauf, die das Wasser nach dem Inn zu sendet, eine Schlucht, die den Augen unzählige Abwechslungen bietet." Der Geheimrat sieht "Dörfer, Häuser, Häuschen, Hütten alles weiß angestrichen, zwischen Feldern und Hecken". Bald wird es "dunkler und dunkler". Dann, so schildert der berühmteste aller deutschen Italien-Reisenden, "sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte ich, dass der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der Grenzscheide des Südens und des Nordens eingeklemmt bin."


236 Jahre später können, wenn alles nach Plan läuft, die touristischen Nachfahren des Dichterfürsten den berühmtesten Pass über die Alpen in Stundenfrist durcheilen - allerdings auf Kosten des wildromantischen Ausblicks auf die atemberaubende Szenerie: Ab 2022 sollen Eisenbahnzüge im Bauch der Berge durch ein Tunnelsystem sausen, das die Weltrekordlänge von 62,758 Kilometer erreicht.


Das Acht-Milliarden-Euro-Projekt, das Österreichs Verkehrsminister Werner Faymann und sein italienischer Amtskollege Antonio Di Pietro diese Woche in Wien mit einem Kooperationsabkommen einstielten, gehorcht der schieren Not: Schon heute droht dieser Hauptschlagader der europäischen Wirtschaft der Infarkt, denn jährlich rollen zwei Millionen Brummis über den Brenner. Immer mehr Tiroler leiden unter der enormen Lärm- und Abgasbelastung. Landeshauptmann Herwig van Staa spricht von einer "Existenzfrage für das kleine Land Tirol", denn schon bis 2015 soll der Lkw-Verkehr um 80 Prozent zunehmen - Horrorzahlen einer Umweltkatastrophe an einem Ort, dessen Name wie kaum ein anderer für den schwierigen und gefährlichen Weg über die Alpen in den sonnigen Süden steht.


Der Brenner, mit 1374 Metern über dem Meeresspiegel der niedrigste Pass über den Hauptkamm der Zentralalpen, ist ein ewig junger Mythos: Auf ihm zogen römische Legionäre und italienische Gastarbeiter in den ungemütlichen, aber ertragreichen Norden, in der Gegenrichtung waren germanische Wandervölker zu Kriegszügen, mittelalterliche Ritter zu Kreuzfahrten und sind Sonnenanbeter zum Turbo-Bräunen am Teutonengrill der Adria unterwegs. Die Route ist uralt: Ötzi starb vor 5300 Jahren zwar rund 50 Kilometer westlich von ihr, aber auch schon zu seiner Zeit wanderten Bernsteinhändler aus dem Baltikum über den Brenner nach Rom. 15 v. Chr. schlug Drusus dort die widerborstigen Räter in die Flucht, und das Imperium drang am Inn zur Donau vor.


Zwischen 195 und 211 machte Kaiser Septimius Severus aus dem unbefestigten Pfad eine wichtige Militär- und Handelsstraße nach Augsburg. Zur Zeit der Völkerwanderung bewachte der alte Hildebrand, der treue Waffenmeister Dietrichs von Bern, von seiner Burg am Gardasee aus den Übergang, auf dem die Goten selber nach Italien kamen. Im Mittelalter war der Brenner der meistpassierte Alpenpass, am reißenden Eisack zu seinen Füßen sprengten Ingenieure 1480 zum ersten Mal Felsen mit Schwarzpulver. 1867 kam die Eisenbahn, nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Grat zur Grenze zwischen Österreich und Italien. In den 50er-Jahren quälten sich voll gepackte deutsche VW-Käfer über die Serpentinen nach den Stränden der Adria, wurde der Brenner zum viel beschriebenen Haupthindernis auf der Reise in das Land, wo die Zitronen blühen. Ab 1960 entstand die Autobahn, und 1963 rollten die ersten Autos bequem über die Europabrücke, mit 190 Metern damals die höchste Europas.


Auch Gruseliges fließt in die Geschichte des Völker verbindenden Verkehrswegs ein: Angeblich wurden in den Pfeilern die Leichen mehrerer verunglückter Bauarbeiter einbetoniert, deren Bergung aus Gründen der Statik unmöglich gewesen sei.


Mit dem Bau des Brenner-Basistunnels BBT und seiner Nebenstrecken findet der Mythos nun eine zeitgemäße Fortsetzung, denn die zwei eingleisigen Riesenröhren, die zwei Bohrer ab 2009 durch den Fels fräsen, setzen jede Menge Superlative. Täglich sollen durch sie mehr als 400 Züge rollen, die schnellsten mit 250 Stundenkilometern. Die Fahrzeit von Innsbruck nach Bozen schrumpft von zwei Stunden auf 50 Minuten. Die zentrale Aorta einer 2200 Kilometer langen Strecke von Berlin über Nürnberg, München und Innsbruck nach Verona und Palermo, Herzstück im Transeuropäischen Netz (TEN) der Eisenbahn, verdreifacht ihren Güterdurchfluss von 600 000 auf 1,8 Millionen Lkw-Ladungen. Der BBT wird mit 56 Kilometern zwar nach dem bis 2015 fertiggestellten 59 Kilometer langen Gotthard-Tunnel nur der zweitlängste der Welt, aber die Österreicher rechnen flugs den Inntal-Tunnel um Innsbruck herum dazu und schlagen die Schweizer so um knapp vier Kilometer.


Was der Bohr-Bau mitten durch das Zentralmassiv des Kontinents Arbeitern, Ingenieuren und Maschinen abverlangen wird, wollen Fachleute seit Juni vergangenen Jahres mit einem Erkundungsstollen im Ahrental, bei Steinach und Pfitsch herausfinden. Er kostet 430 Millionen Euro und soll später als Versorgungs- und Fluchttunnel sowie zur Entwässerung dienen. Erstes Zwischenergebnis: Im Untergrund zwischen Bündner Schiefer und Quarzphyllit taten sich, so Geologe Ulrich Burger, nach rund 70 Vertikalbohrungen Störzonen auf, die sich über mehrere Hundert Meter erstrecken könnten. Dimitrios Kolymbas, Professor für Geotechnik und Tunnelbau an der Universität Innsbruck, klingt nicht optimistisch: "Die geologische Situation ist nicht einfach", sagt er. In Quarzphyllit können je nach Richtung der Schieferlagen Deformationen bis zu einem Meter auftreten - für Tunnelbohrmaschinen womöglich fatal. Beim Bau des Gotthard-Basistunnels, der durch vergleichbar schwierigen Untergrund führt, quollen plötzlich unerschöpfliche Ströme zuckerförmigen Dolomits mit Tausenden Tonnen Wasser aus den Wänden und zwangen alle Maschinen zum Stopp - ein halbes Jahr lang ging nichts mehr.


Die Gefahren sind groß: Wenn die bis zu 60 Meißel einer 1470 Tonnen Tunnelbohrmaschine, wie sie etwa der Schwarzwälder Martin Herrenknecht für die Schweizer durch die Berge fährt, allzu weiches Gestein graben und die Wände deshalb stärker als geplant abgestützt werden müssen, schafft der Bohrkopf statt der üblichen 80 Wochenmeter vielleicht nur ein Zehntel davon, mit entsprechend steilem Anstieg der Kosten. Und wenn viel Wasser abgepumpt werden muss, sackt der Berg darüber zuweilen ein. Nach einem Tunnelbau bei Basel klaffte plötzlich ein 30 Meter weiter Krater über der Einstutzstelle, tagelang konnte niemand mehr zur Bohrmaschine vordringen.


Auch Umweltschützer beobachten den Bau mit gemischten Gefühlen: Der Rekordtunnel ist eine Bypass-Operation am offenen Herzen der Alpen, und die ökologischen Auswirkungen sind längst nicht klar, aber noch nie wurde so viel Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wie in den BBT-Planspielen. Die EU macht mit, Verkehrskommissar Karel van Miert verspricht bis 2013 mindestens 850 Millionen Euro. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee ist von den hochalpinen Kollegen höflichst eingeladen, ebenfalls ein Drittel der Kosten zu finanzieren. Aus den geplanten Mautgebühren errechnen sich Rückflüsse von jährlich 40 Millionen Euro. Und das ist hoffentlich kein Mythos.