Wilsede. Lüneburger Heide: Wilsedes Schäfer Jürgen Funck hört auf. Seine Heidschnucken-Herde übernimmt der jüngste Schäfer des Landes.
Wenn Schäfer Jürgen Funck das Gatter im Schafstall von Wilsede öffnet, drängen sich etwa 500 Heidschnucken an ihm vorbei: Blacky, die er per Hand mit der Flasche aufgezogen hat. Dora, das größte Schaf der Herde, die bei der Geburt fast gestorben wäre. Filzi, die so feine Wolle hat. Dick und Doof, die lange unzertrennlich waren. Und dazwischen Knut, eine der 19 Ziegen und die neugierigste unter ihnen.
„Die Tiere werden mir fehlen“, sagt Jürgen Funck mit einem feinen Lächeln. Nach 45 Jahren als Schäfer in der Lüneburger Heide geht er jetzt in den Ruhestand. Doch an diesem Tag setzt der 61-Jährige noch einmal seinen Hut auf, greift zum Schäferstab und holt seinen Hund zu sich heran. Die Schafe strömen an ihm vorbei, sein erfahrener Blick gleitet über die wolligen Rücken auf der Suche nach Auffälligkeiten.
Schäfer in der Lüneburger Heide ist Jürgen Funck seit seinem 16. Lebensjahr
„Irgendwann kennt man jedes Tier, es gibt keine zwei gleichen“, sagt er. Genau zu beobachten, das gehört zu wichtigen Aufgaben eines Schäfers. Neben dem Hüten der Herde muss aber auch der Stall instand gehalten und sauber gemacht werden, die Tiere müssen entwurmt, die Klauen gepflegt werden.
Seit er 16 Jahre alt ist, hütet der gebürtige Hamburger Schafe in der Lüneburger Heide. In dieser Zeit hat sich einiges gewandelt, andere Aufgaben sind geblieben. Die Bürokratie habe enorm zugenommen, die tägliche Arbeit sei ein bisschen moderner geworden, sagt Jürgen Funck. Früher mussten die Schäfer ihre Tiere alle zwei Stunden mit Wasser versorgen, jetzt gibt es Tränken im Stall an denen sich die Schafe selbst bedienen können. „Das ist ein Superluxus“, meint der Schäfer. „Aber es bleibt immer noch viel Handarbeit.“
Die Heidschnucken sind wichtig für den Erhalt der Heidelandschaft
Spätestens um 10 Uhr lässt er die Heidschnucken aus dem Stall, dann verbringt er den Tag mit der Herde, den Ziegen und seinen Hütehunden auf verschiedenen Flächen in der Umgebung. Dort gehen die Schafe ihrer traditionellen Aufgabe nach, dem Erhalt der geschützten Heidelandschaft. Für die Pflege dieser Landschaft sind die Heidschnucken enorm wichtig, ohne sie würden andere Pflanzen die Heide verdrängen.
Jürgen Funck ist bereits sein gesamtes Arbeitsleben beim Verein Naturschutzpark Lüneburger Heide (VNP) angestellt, zuletzt mit fünf weiteren Kollegen. Rund vier Jahrzehnte lebte er in der Dienstwohnung in Wilsede, genauso wie alle seine Vorgänger seit 1880. Nun hat er sie für seinen Nachfolger geräumt. Er selbst zieht nach Bispingen, so kann er die Tiere noch besuchen, wann immer er will. Doch zuerst wird er Urlaub machen, bei seiner Lebensgefährtin, die in Polen ihre Mutter pflegt.
Sieben-Tage-Woche, Schnee und Wölfe – das Schäferdasein birgt Herausforderungen
Der Beruf verlangt Schäfern einiges an Einsatz und ihren Partnerinnen viel Verständnis ab. „An erster Stelle stehen die Schafe“, sagt Jürgen Funck. „Dreiviertel meines Lebens hatte ich eine Sieben-Tage-Woche.“ Urlaub gibt es erst seit einigen Jahren, heute erhalten die Schäfer beim VNP vier freie Tage im Monat und 30 Urlaubstage im Jahr.
Ein Arbeitstag von täglich acht bis neun Stunden ist normal, bei jedem Wetter, egal ob meterhoch Schnee liegt oder Trockenheit und Hitze beängstigende Ausmaße annehmen. Auch Wölfen ist der Schäfer begegnet, dreimal kam ein Wolf in die Nähe seiner Herde. Jürgen Funck wehrte die Tiere lautstark ab, setzte auch seinen Stock ein. „Ich habe hier jedenfalls kein langweiliges Leben geführt“, sagt er.
Dominic Schäfer pflegt einen anderen Hütestil als sein Ausbilder
Auch den Schafen ist Abwechslung wichtig. An diesem Vormittag macht der Schäfer sich auf in Richtung Döhle, dort gibt es einen kleinen Bach, das fließende Wasser tut den Tieren gut. „Sie mögen es nicht, wenn man zwei- oder dreimal die gleiche Strecke mit ihnen geht“, sagt Jürgen Funck. Mit liebevollem Blick wendet er sich den Heidschnucken zu. „Ihr seid völlig verwöhnt!“
Sein Nachfolger Dominic Schäfer pflegt einen anderen Hütestil, er ist etwas strenger mit den Schafen. „Wenn Jürgen hütet, bestimmen die Schafe den Weg. Wenn ich hüte, entscheide ich, wohin wir gehen.“ Der 20-Jährige aus Schneverdingen ist Niedersachsens jüngster Schäfer.
Drei Jahre dauert die Ausbildung zum Schäfer, es gibt nur noch wenige Lehrlinge
Die dreijährige Ausbildung hat der junge Schäfer im vergangenen Jahre abgeschlossen, außer der praktischen Arbeit in der Lüneburger Heide besuchte er dafür die Berufsschule in Halle. Der weite Weg ist dem selten gewordenen Beruf geschuldet. Auch wenn es in Deutschland noch etwa 800 Schäfer gibt, machen in Niedersachsen derzeit nur sieben Lehrlinge eine Ausbildung zum Tierwirt mit Schwerpunkt Schafhaltung.
Ihm sei früh klar gewesen, dass er mit Tieren arbeiten will, sagt Dominic Schäfer, der auf jeden Fall noch den Meister machen will. Auch die Arbeit im Freien und die Ausbildung der eigenen Hunde machen ihm Spaß. Drei Altdeutsche Hütehunde und ein deutscher Schäferhund begleiten ihn bei seiner Arbeit. „Als erstes musste ich ihnen beibringen, dass ich der Chef bin.“
In der Saison ist die Heide voller Touristen, die Schäfer beantworten ihre Fragen
Eine weitere Herausforderung sind die Touristen. Zwar beantworten die Schäfer geduldig die häufig gleichen Fragen der Heidebesucher, auch wenn sie ihnen naiv vorkommen. „Einige sehen die Ziegen und sagen: Das sind also die Heidschnucken!“, berichtet Dominic Schäfer. Er verkneift sich jeden weiteren Kommentar.
Aber einige unachtsame Touristen strapazieren dennoch ihre Nerven. So kommt es vor, dass diese die Heidelandschaften betreten, obwohl sie im Naturschutzgebiet auf den Wegen bleiben müssen. Gerade in der Saison seien einfach sehr viele Menschen in der Gegend unterwegs, sagt der junge Schäfer. „Aber wenn mich das wirklich stören würde, hätte ich woanders hingehen müssen.“
Der alte Schäfer will seine Heidschnucken in der Lüneburger Heide besuchen
Seit Anfang des Jahres betreute Dominic Schäfer gemeinsam mit Jürgen Funck die Herde in Wilsede, seit April ist er allein für sie zuständig. Sein Vorgänger springt noch für Vertretungen ein. Dass sie gemeinsam die Tiere aus dem Stall holen, kommt seit einigen Monaten nur noch selten vor. Jetzt stehen sie dort, der Junge und der Alte, inmitten der vielen Schafe und ergänzen sich in ihren Erzählungen.
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Plötzlich ertönt ein hartnäckiges „Mäh, mäh, mäh“. Jürgen Funck zieht ein Handy aus der Jackentasche. Das Tier, das dort blökt, lebt seit fünf Jahren nicht mehr. Aber der Schäfer weiß noch genau, zu welcher Heidschnucke der Ton gehört. Genauso wie bei dem anderen „Mäh“, das wenig später aus der Hosentasche erklingt, und zu einem zweiten Telefon gehört. Auch so wird Jürgen Funck die Erinnerung an seine Schafe wachhalten.
Er ist froh, dass der junge Schäfer seine Herde übernommen hat. Nicht nur, weil die Arbeit zuletzt beschwerlich für ihn geworden ist und weil er seine Schützlinge nun in guten Händen weiß. Sondern auch, weil mit dem Generationenwechsel ein Kulturgut der Lüneburger Heide erhalten bleibt. „Wilsede ohne Schafherde, das gab es doch noch nie.“