Buchholz/Perth. Mann der vielen Gesichter: Mit seiner Metalband Voyager will Daniel Estrin den ESC 2023 gewinnen. Als Anwalt berät er Einwanderer in Australien.
Wer Deutschland beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) die Daumen drücken will, hat gleich zwei Optionen: Da ist der offizielle deutsche Vertreter – die Hamburger Metal-Band Lord Of The Lost. Und da ist der gebürtige Buchholzer (Landkreis Harburg) Daniel Estrin, der mit seiner Band Voyager für Australien in Liverpool antritt – ebenfalls mit harten Rock-Klängen.
Estrin ist ein Mann der Widersprüche, der mit viel Vorfreude und einer großen Portion Selbstbewusstsein in den Wettbewerb geht. „Wir werden als erste den ESC-Sieg nach Australien holen, weil die Zuschauer uns den Spaß auf der Bühne ansehen werden – und dieser Spaß ist ansteckend. Wir lieben die Musik und haben mit ‚Promise‘ einen fantastischen Song geschrieben“, sagt er.
Hier ist das offizielle Musikvideo von Voyager zu sehen:
Im Gegensatz zu Lord Of The Lost können die deutschen Zuschauer für Voyager – als ausländischen Act – im Televoting tatsächlich stimmen, falls die Band das Finale per Qualifikation im Halbfinale (11. Mai) erreicht.
Voyager beim ESC: Metal trifft 80er-Jahre-Pop trifft Bürokratie-Fetisch
Lange Haare und Metalmusik gepaart mit dem Sound und Look der 80er-Jahre – was Voyager optisch und musikalisch bieten, ist in sich schon ein ungewöhnlicher Mix. Frontmann Daniel Estrin vereint in seiner Person aber noch viel mehr Gegensätze, wie er im Gespräch mit dem Abendblatt verrät.
Denn während seine musikalische Karriere mitunter von krawalligen Gitarrenriffs und viel Theatralik geprägt ist, führt der 46-Jährige Jurist im Hauptberuf eine große Anwaltskanzlei in Perth an der australischen Westküste. Und frönt dabei nach eigener Aussage einem regelrechten Bürokratie-Fetisch: „Ich habe eine perverse Zuneigung zur Bürokratie. Für mich gibt es keinen besseren Job“, sagt Estrin.
Hier ist er als Experte im BBC-Interview zum Fall Novak Djokovic zu sehen:
Spezialisiert ist er auf Einwanderungsfragen. Nach dem Jurastudium arbeitete er zunächst für die australische Einwanderungsbehörde und später als Jurist für die Staatsanwaltschaft (Migration Lawyer), bevor er vor zehn Jahren sein eigenes Unternehmen gründete. Den Spagat zwischen internationalem Tourleben plus Albumaufnahmen im Studio und Rechtsberatung in Chefposition meistere er durch Fernarbeit – insbesondere aber dank seines Teams. „Ich habe 30 fantastische Angestellte – und die gönnen mir das.“
Daniel Estrin startete mit klassischer Geige und Klavier
Musikalisch ging es für den Auswanderer alles andere als rockig los: Im Elternhaus in Buchholz – genau genommen in den Ortsteilen Trelde und Sprötze – war fast ausschließlich klassische Musik angesagt. Mit fünf Jahren begann der kleine Daniel Geige und Klavier zu spielen. Den Tasten ist er treu geblieben und bedient bei Voyager seit der Gründung 1999 als Sänger auch das Keyboard.
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„Mit Rockmusik hatte ich damals noch nichts zu tun“, so Estrin über seine Kindheit und Jugend südlich von Hamburg. Geprägt hätten ihn neben der Klassik auch Schlager und insbesondere Modern Talking. „Das ist einfach geil, ich liebe es“. Woran er sich besonders lebhaft erinnere, seien die gemeinsamen Eurovision-Abende im Wohnzimmer (früher noch als „Grand Prix“ bekannt, Anm. der Redaktion) und insbesondere die Eurovision-Sammelplatten.
Voyager dürfen nach acht Jahren endlich zum ESC
Als er erfuhr, dass er nun selbst beim ESC auf der Bühne stehen wird – seiner Ansicht nach „die beste Liveshow der Welt“ – sei er fast vom Stuhl gefallen. „Das war wie ein Traum. Und es fühlt sich immer noch surreal an.“ Seit 2015 versuchen Voyager, an dem Wettbewerb teilzunehmen. Nach Platz zwei im australischen Zuschauervoting im Vorjahr wählte sie der Sender SBS diesmal ohne Publikumsbeteiligung direkt aus.
Die Musik, mit der er antritt, erklärt er so: „Es ist melodisch. Es ist 80er-Pop mit ein paar harten Gitarren.“ Und ab und zu werde mal gegrunzt. „Besonders Metal ist eine Show. Alles ist Theatralisch.“ Und eine bessere Bühne als den ESC gebe es für theatralische Musik gebe es auf der Welt nicht.
Warum der Buchholzer nach Australien auswanderte
Dass Daniel Estrin in Australien lebt und jetzt für das Land beim ESC antritt, geht auf ein Jobangebot für seinen Vater vor 30 Jahren zurück. Der arbeitete als Wissenschaftler an der Technischen Universität Hamburg-Harburg – bis ihm die University of Western Australia in Perth eine Professur anbot. 1992 ging die Familie Estrin nach Down Under, da war Daniel 16 Jahre alt und ging auf das Friedrich-Ebert-Gymnasium in Harburg. „Das war eine große Sache für mich“, sagt er.
Heute fühlt sich der Jurist und Musiker als Australier. In ihm stecke aber noch jede Menge deutsches Kulturgut. „Mit meinen Kindern versuche ich Deutsch zu sprechen und ich lasse sie Hörspiele wie Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg hören oder die Sesamstraße gucken.“ Zwischendurch lebte und studierte Estrin in Göttingen und Berlin, für die anstehende Europa-Tour ab Oktober 2023 sind Auftritte in Deutschland wie immer Pflichtsache.
Buchholz hat er das letzte Mal vor Ausbruch der Corona-Pandemie besucht. „Ich habe noch Freunde und Familie in Buchholz und Umgebung.“ Die wolle er bald wieder besuchen.
„Content, content, content“: Die Band ist voll im Eurovision-Fieber
Aktuell stecken er und seine Bandmitglieder voll in der Vorbereitung für die Eurovision-Hauptshows im Mai. „Es macht mordsmäßig Spaß. Aber es ist auch ganz anders, als mit der Band auf Tour zu gehen“, so der Bandleader. ESC – das heiße Inhalte auf allen Kanälen zu liefern: „Content, content, content“ laute das Motto. Dazu gehöre das Interview über die Keksrezept seiner Mutter genauso wie musikalische Coverversionen anderer ESC-Teilnehmer.
Über die Bühnenshow darf der Frontmann nicht viel verraten. Man plane „etwas Besonderes“. Er wolle die drei Minuten nutzen, um möglichst gut zu zeigen, wer die Band sei und die Zuschauer durch eine Geschichte zu führen. Das Geile am ESC sei: „Man kann sich etwas wünschen – und dann wird das gemacht.“
Semifinals: Am 11. Mai wird es ernst für Voyager
Die erste sogenannte „ESC-Preshow“ im Madrid absolvierten Voyager bereits am vergangenen Wochenende. Es folgen Konzerte in Amsterdam und London. Am Donnerstag,11. Mai, wird es dann ernst für Daniel Estrin und seine Mitmusiker. Ab 21 Uhr startet der zweite ESC-Halbfinaltag. Voyager stehen als letzter Act des Abends auf der Bühne.
Den neuen ESC-Regeln zufolge entscheidet dann ausschließlich das Publikum und keine Jury mehr darüber, ob der frühere Buchholzer als einer der ersten zehn Musiker ins Finale am 13. Mai starten darf.
Am ESC-Triumpf gehe gar kein Weg vorbei, sagt Estrin im Scherz. „Sonst entzieht mir der australische Staat die Staatsbürgerschaft wieder und ich muss zurück nach Deutschland.“ An die Zuschauer in Deutschland in insbesondere an die Menschen in seiner früheren Heimat gerichtet sagt er, ebenfalls mit einem Augenzwinkern: „12 Punkte an den Ur-Buchholzer bitte, der zufällig für Australien antritt.“