Wistedt. Auf dem Hermannshof in Wümme sorgt ein Figurentheater für geistiges Wohl. „Alice im Wunderland“ wird hier im Bauernhaus gezeigt

Die Raupe aus „Alice im Wunderland“ schnarcht noch, als sie vom weißen Kaninchen auf die Bühne des Hermannshoftheaters im Landkreis Harburg geschoben wird. So träge wie sie mit ihrem mondförmigen Menschengesicht und dem wurmartigen Körperchen auf ihrem Pilz hängt, kann sie sich nicht selbst fortbewegen. „Herr Minister“ heißt das Mischwesen bei Antje und Johann Karl König, die hier in alle Rollen vor, auf und hinter der Bühne schlüpfen.

Und dieser Herr Minister schläft auch weiter, als Alice ihm gegenübertritt. Er träume nämlich von ihr, muss die Hauptfigur des Puppenspiels sich von den anderen sonderbaren Geschöpfen anhören. Noch unheimlicher wird es, als sie dann auch noch unter schelmischem Lachen gefragt wird: „Und was meinst du, wo du bist, wenn der Herr Minister dann aufwacht?“ Da setzen sich die Kinder, die in der ersten Reihe eben noch auf Stuhlkanten saßen, allesamt ruckartig zurück.

Ein Bauernhaus im Landkreis Harburg mit Theaterbühne

Wobei im Hermannshoftheater in Wümme niemand Angst zu haben braucht, stattdessen wird jeder Gast persönlich vom Hausherren empfangen und darf bei Wein oder Limonade in den liebevoll eingerichteten Wohnräumen des Paares bis zum Beginn der Vorstellung verweilen.

Wer zu früh kommt, wird genug zum Entdecken haben: Bücher, Bilder, Kommoden voller Puppen, zwei Klaviere, den Blick auf den Hof, den Johann Karl König in sechster Generation übernommen hat.

Johann Karl und Antje König auf ihrer Bühne in Wümme.
Johann Karl und Antje König auf ihrer Bühne in Wümme. © Unbekannt | Helena Davenport

Hat es dann zur Vorstellung geläutet, darf man es sich in extrem hohen Theatersesseln bequem machen. Knapp 20 Zuschauerinnen und Zuschauen finden aktuell in dem Publikumsraum Platz. Mit baumelnden Beinen entgleitet einem auch der letzte Alltagsgedanke – das Theater des magischen Realismus kann beginnen. Nach und nach übernehmen die Puppen die Bühne und agieren so lebhaft, dass bald schon gar nicht mehr auffällt, dass es das weiße Kaninchen ist, nämlich Johann Karl König mit flauschigen Ohren, dem auch die Stimme des Ministers gehört, obendrein auch die der Grinsekatze.

Und dass Alice sich nicht selbst bewegt, sondern von Antje König geführt wird, die zeitgleich in zig anderen Rollen spricht. Einmal passiert es, dass die Grinsekatze plötzlich mit Häschenstimme antwortet, ein eingebauter Witz. Das Publikum lacht. Andere Rollen bleiben ganz im Verborgenem: Das Licht wird ebenfalls von den zwei Spielern gesteuert, auch die Musik.

Die Puppen der Königs reden fast von selbst

Ob es Momente gebe, in denen sie bei den vielen Aufgaben auf der Bühne tatsächlich durcheinandergeraten? „Man muss sich schon konzentrieren“, antwortet Antje König mit einem Schmunzeln. Aber sie stehe schließlich im Dienst der Puppen und die würden fast von selbst reden. Bei den Proben werde zu Anfang viel improvisiert – es sei wichtig herauszufinden, was den Puppen im Munde liegt. Das komme einer Geburt gleich, beschreibt Johann Karl König.

Für die Entwicklung eines Stückes planen die Königs ein Jahr ein. Zunächst werden alle Beteiligten eingeweiht. Christian Werdin entwirft die Figuren, Katharina Schimmel die Kostüme und Anastasia Zukanova das Bühnenbild. Im Sommer werden die Details besprochen und im Herbst beginnen die ersten Proben, bei denen Karl Huck von der Seebühne Hiddensee, ihrer „Schwesterbühne“, die Regie führt.

Antje König, 1966 in Potsdam geboren, kennt Huck aus dem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Sein Figurentheater in Mecklenburg-Vorpommern ging aus dem Berliner Homunkulus hervor. Hier war Antje König in den Neunzigern als Spielerin tätig, nachdem sie am Staatstheater Schwerin engagiert war. Heute führt sie für die Seebühne Regie und Huck wiederum für ihr Theater in Wümme.

Große Vielfalt auf kleiner Bühne

Was besonders beeindruckt, ist wohl die Vielschichtigkeit dessen, was die Königs auf ihrer kaum zehn Quadratmeter großen Bühne präsentieren. Sowohl den Kleinen als auch Erwachsenen kommen sie nahe. Was auch bedeutet, dass sich die Kleinen streckenweise in Geduld üben müssen. Ein ausgelassener Moment lockert dann im Nu wieder auf, wenn zum Beispiel das Haar der Herzogin als Staubmopp herhalten muss.

Zeitgleich scheinen die Erinnerungen der Herzogin an Altersblässe zu verlieren. Wenn sie erzählt, dass die Kanone, mit der sie als Teufelsbraut auftrat, vom Militär gebraucht und deshalb konfisziert wurde, bekommt das Puppenspiel auch einen sehr aktuellen Charakter. „Das ist tatsächlich tragisch, dass wir diesen Satz eingeprobt haben – mit Kriegsbeginn erhielt er eine neue Dimension“, sagt Johann Karl König. Ohnehin seien die großen literarischen Werke – im Hermannshoftheater laufen derzeit auch „Faust“ und „Anna Karenina“, nur für Erwachsene – so nah an den menschlichen Grundstrukturen gebaut, erwidert Antje König, dass sie nie an Aktualität verlieren könnten.

Auch Corona spielt eine Rolle

Auf der Hermannshofbühne beginnt die Geschichte um Alice schon mit einem aktuellen Thema, das allerdings ebenfalls nicht aus der Feder des britischen Autos Lewis Carolls stammt, der „Alice im Wunderland“ 1865 veröffentlichte. Das Wunderland ist in Wümme nämlich ein Wunderzirkus, dessen Artisten über keine Mittel mehr verfügen, mit denen sie ihre Berufe ausüben könnten. Der blinde Drehorgelspieler ist gar nicht blind – aber so verdient er auf der Straße immerhin ein paar Euro. Und anstelle der wilden Tiere führen nun drei Labormäuse ihre Kunststücke auf. Nichts sei mehr übriggeblieben, stöhnt der dickbäuchige Zirkusdirektor und erinnert an die Lücken, die Corona bisher hinterlassen hat.

Im Hermannshoftheater fanden vor Corona bis zu 30 Besucher Platz, jetzt wäre das zu eng, finden die Königs. Außerdem veranstaltete das Paar jeden Sommer ein Theaterwochenende in ihrer Scheune für bis zu 200 Leute mit verschiedenen Bühnen aus der Umgebung. „An Theater finde ich die Nähe großartig“, sagt Antje König, „man verschmilzt zu einem Zuschauer-Organismus, der gemeinsam atmet.“

Die Geschichte des Hofes

Auf dem Hermannshof hat man sich von der Pandemie abgelenkt, indem mehrere Stücke pro Jahr eingeübt wurden, zuletzt „Der gestiefelte Kater“ und „Schneeweißchen und Rosenrot“. „Wenn man uns verbietet zu spielen, ist das zwar grausam, aber wir haben immer etwas zu essen“, sagt Antje König. Bis 2018 haben sie und ihr Mann die Landwirtschaft auf ihrem Hof noch selbst geführt. Seit 1988 hatte Johann Karl König, damals Anfang 20, den Betrieb seiner Familie für den Anbau von Gemüse und Getreide sowie die Produktion von Rindfleisch nach biologisch-dynamischen Prinzipien umgestellt.

In den Neunzigern verpachtete er ihn dann der Schauspielerei wegen. Am Monsun-Theater Hamburg hatte er seine Theaterausbildung absolviert. Doch um die Jahrtausendwende befand sich der Pächter in wirtschaftlichen Schwierigkeiten – also kehrte Johann Karl König zurück, zusammen mit Antje. „Johann hat den Hof in die Wiege gelegt bekommen, ich das Theater“, sagt Antje König, „Es war klar: Dann müssen wir halt beides machen.“ Eigentlich habe sie nie in den Westen ziehen wollen, aber die Birken und Wasserläufe in Wümme stimmten sie sanftmütig. 2002 gründeten sie ihr Theater.

Die Arbeit hört nie auf

Beides zu stemmen, war gar nicht leicht, aber es ging irgendwie. „Das ist wie bei der Hummel“, erklärt Antje König, „ihr Körper sieht überhaupt nicht aerodynamisch aus, aber fliegen kann sie, weil sie weiß, dass sie fliegen muss.“ Die Arbeit auf einem Hof höre nie auf, sagt Johann Karl König: „So bin ich aufgewachsen, das geht nur, wann man das lebt.“

Das Paar entwickelte immer wieder neue Strategien, tauschte zum Beispiel die eigene Arbeitskraft ein: Antje führte für die Theaterimkerei auf dem Hofgut Pulsitz zwischen Leipzig und Dresden Regie und das Paar von der Theaterimkerei kümmerte sich im Gegenzug um die beiden Töchter der Königs. Auf Gastspielreisen kamen Adele und Luise, heute 17 und 19, meist mit – die Reisen waren der Familienurlaub. Kiew war bisher der am weitesten entfernte Auftrittsort. Auch in Kopenhagen traten die Königs schon mit ihren Puppen auf, oder in Südtirol.

Heute konzentriert sich das Paar voll und ganz auf das Theater, 2018 übernahm ein junger Landwirt den Betrieb des Hofes. Zwei Jahre lang war er zuvor eingearbeitet worden. „Hier gibt es weiterhin Nahrung für Körper und Geist“, sagt Johann Karl König, noch immer die weiße Theaterschminke auf den Wangen, „und die macht den Menschen doch aus.“