Ernten, pflügen, säen: Kurz vor der Wahl 2015 setzt der Senat letzte Versprechen um und Probleme ab. Die Opposition konnte trotz Politprofis ab der Spitze selbst von Fehlern kaum profitieren
Hamburg. Es hätte auch ganz anders laufen können, dieses merkwürdige Jahr 2014. Zum Beispiel so: Nachdem der Senat auf die gewalttätigen Krawalle im Schanzenviertel und den Angriffen auf Polizeiwachen Anfang des Jahres mit der Ausweisung des größten Gefahrengebiets in der Geschichte der Stadt reagiert, schaukelt sich der Konflikt zwischen linker Szene und Rathaus weiter hoch. Die Flüchtlinge der Lampedusa-Gruppe und der Abriss der Esso-Häuser auf St. Pauli entzweien die SPD endgültig vom Rest ihrer linken Stammklientel, die Rote Flora wird wieder zum Zentrum des Widerstands.
Auf der anderen Seite rückt die Wirtschaft vom Scholz-Senat ab, weil auch er – trotz vollmundiger Ankündigungen – die Elbvertiefung vor Gericht nicht durchgesetzt bekommt. Die geistige Elite der Stadt ist in Aufruhr, weil die Hochschulen finanziell kurzgehalten werden. Der einst von Scholz ausgehandelte „Schulfrieden“ bröckelt, nachdem die Volksinitiative für ein neunjähriges Abitur (G9) einen Volksentscheid erzwingt. Und zu allem Überfluss wollen die Hamburger auch Weihnachten 2014 immer noch nicht begreifen, warum der Senat sie mit einem Busbeschleunigungsprogramm segnet und dafür die halbe Stadt umbuddelt.
Die SPD ist daher in Umfragen auf nur noch 35Prozent abgestürzt, die CDU mit Herausforderer Dietrich Wersich liegt nur noch knapp dahinter. Ende und Höhepunkt dieses denkwürdigen Politikjahres ist Mitte Dezember die Generaldebatte in der Bürgerschaft zum Haushalt 2015/2016, in der die Opposition den Senat mächtig anzählt. Scholz rettet sich mit einer verzweifelten Verteidigungsrede nur knapp zurück auf die Senatsbank. Es liegt Wechselstimmung in der Stadt, die Bürgerschaftswahl am 15. Februar 2015 verspricht enorm spannend zu werden.
Hätte, könnte, wenn und aber. Tatsache ist: So kam es nicht.
Sondern ganz anders: Als sich die Hamburger Politik vorige Woche mit den dreitägigen Haushaltsberatungen in den Weihnachtsurlaub verabschiedete, saß Bürgermeister Scholz sehr entspannt auf der Senatsbank. Der Sturm der Entrüstung, wie ihn die Opposition in solchen Generaldebatten zu entfachen pflegt, erreichte kaum die an der Elbe alltägliche Windstärke. Scholz, mit Umfragewerten von 42 bis 45 Prozent für seine Partei im Rücken, hörte sich das Ganze fast zwei Stunden lang an, um dann mit einem ähnlich lauen Lüftchen zu antworten: „Hamburg geht es gut.“ Dass er sich bei Wersich dafür bedankte, dass der das ja im Prinzip auch so sehe, hatte etwas dezent Demütigendes für die in Umfragen bei 22 bis 27 Prozent dümpelnde CDU.
Die Frage ist also: Warum stehen Scholz und die SPD da, wo sie seit vier Jahren stehen, nämlich immer noch nah dran an der absoluten Mehrheit? Wer es sich einfach machen möchte, zeigt auf die Opposition und sagt: Der Gegner ist zu schwach. Aber das trifft es nicht. Zwar verfügt keine der vier Fraktionen über einen Volkstribun, der die Beliebtheit des Bürgermeisters erschüttern könnte. Aber sieht man von der mit sich selbst kämpfenden Zwei-Prozent-FDP einmal ab, gibt es mit Wersich (CDU), Jens Kerstan (Grüne) und Dora Heyenn (Linke) drei erfahrene Fraktionschefs, die auch 2014 mehrfach und gekonnt Schwächen des Senats aufdeckten. Allein: An der politischen Stimmung änderte das fast gar nichts.
Der Hauptgrund dafür ist folglich bei der SPD um Olaf Scholz zu suchen, die nach wenigen Prinzipien regiert – nennen wir sie Ernten, Pflügen, Säen – diese aber konsequent verfolgt. 2014 stand dafür geradezu exemplarisch.
Stichwort Ernten: Gemäß dem scholzschen Grundsatz, wenig zu versprechen, das aber einzuhalten, wurden dieses Jahr die letzten Wahlversprechen erfüllt und die erwartbare Zustimmung der Bürger geerntet. An oberster Stelle standen hier der Wohnungsbau und die Kita-Gebühren. Nach zwei Jahren Anlauf gelingt es mittlerweile wie versprochen 6000 neue Wohnungen pro Jahr fertigzustellen. Obwohl es auch Kritik gibt – zum Beispiel verweisen Experten darauf, dass die neuen Wohnungen über den Mietspiegel die Mieten sogar steigen lassen –, trifft die SPD damit den Nerv vieler Bürger, die verzweifelt eine Wohnung suchen oder unter hohen Mieten leiden. Das bereits 2011 geschlossene „Bündnis für das Wohnen“ von Senat, Bezirken und Wohnungswirtschaft war natürlich nicht zufällig darauf ausgelegt, die Zielzahl 6000 spätestens im Jahr vor der Wahl zu erreichen.
Auch die Abschaffung der Kita-Gebühren hatte Scholz bereits vor seiner Wahl zum Bürgermeister Anfang 2011 mit den Elternverbänden schriftlich vereinbart. Dass die entscheidende Stufe erst im August 2014 zündete, ein halbes Jahr vor der Wahl, war von vornherein so geplant. Der Opposition blieb da nicht viel mehr übrig als kleinlaut „Wahlkampf“ zu flüstern – denn keine Fraktion würde die Gebühren wieder einführen, auch CDU und Grüne nicht, die die bestehenden Entgelte 2010 noch drastisch erhöht hatten.
Etwas überraschend in die Rubrik „Ernten“ fiel auch der Haushalt. Denn Scholz und sein Finanzsenator Peter Tschentscher hatten zwar frühzeitig das Ziel ausgegeben, die städtischen Finanzen konsequent auf die Einhaltung der Schuldenbremse 2019 zu trimmen. Aber sie hatten sich trotz stetig besser werdender Zahlen und ständiger Forderungen von CDU, FDP und Grünen drei Jahre lang standhaft geweigert, offiziell ein früheres Ziel ins Auge zu fassen. Erst im Herbst 2014 dann der Kurswechsel: In Anbetracht eines erwarteten Haushaltsüberschusses von mehr als 100 Millionen Euro beschloss der Senat im November hochoffiziell, schon 2014 keine Schulden mehr zu machen – und verkauft das seitdem entsprechend offensiv. Auch hier gilt für die Opposition: Im Detail hat sie allerlei zu kritisieren, aber das große Ganze taugt nicht mehr als Wahlkampfthema.
Kommen wir zum Prinzip „Pflügen“ oder auch „Probleme unterpflügen“. Scholz gefällt sich zwar in der Rolle des unbeirrbaren Machers, der auch Widerstände nicht scheut. Doch obwohl das Bild in gewisser Hinsicht stimmt, achtet er hinter den Kulissen sehr genau darauf, jedes zarte Protestpflänzchen möglichst rasch aufzuspüren und eine Gegenstrategie zu entwickeln, bevor es seinem Senat gefährlich werden könnte. Beispiele bot 2014 viele.
Nach den Krawallen und den Gefahrengebieten war die Polizei in Aufruhr, weil die Beamten Tausende Überstunden angehäuft hatten. Zudem überboten sich die Gewerkschaften mit Forderungen. Die wurden vom Senat rasch erfüllt – nur eine Woche nach den Gefahrengebieten ließ er zehn Millionen Euro extra springen. Angesichts von Gesamtausgaben für die Polizei von 640 Millionen Euro war das zwar nur eine kleine Geste, aber seitdem ist weitgehend Ruhe. Hier war auch bereits eine Strategie zu beobachten, die sich noch mehrmals wiederholte: Das zusätzliche Geld kam nicht aus dem Etat der Innenbehörde, sondern aus der „allgemeinen zentralen Reserve“. Trotz einer weitgehend strengen Sparpolitik hatte der Senat etliche solcher Polster im Haushalt angelegt. So blieb er im Notfall handlungsfähig, ohne die Einhaltung der Schuldenbremse zu gefährden.
Das zweite Problem, das in dem Zusammenhang dringend gelöst werden musste, war die Rote Flora. Dass deren Besitzer Klausmartin Kretschmer mit Verkaufs- und Umbauankündigungen permanent Protest erzeugen und so den Senat unter Druck setzen konnte, musste aus Scholz’ Sicht vor der Wahl unbedingt beendet werden. Zur Not mit der Brechstange. Erster Schritt war ein Angebot für das besetzte Kulturzentrum über 1,1 Millionen Euro, das Kretschmer bis zum 3. Februar annehmen konnte. Weil er darauf nicht reagierte, wollte die Stadt das alte Theater auf juristischem Weg für die 190.000 Euro zurückhaben, für die sie es 2001 an Kretschmer verkauft hatte. Als auch das sich als schwierig herausstellte, stellte ausgerechnet ein städtisches Finanzamt Insolvenzantrag gegen Kretschmer. Und das Gericht ernannte – abermals ausgerechnet – Nils Weiland als Insolvenzverwalter. Der Anwalt ist zwar ausgewiesener Experte für Insolvenzverfahren, aber eben auch stellvertretender SPD-Landesvorsitzender. Als die Stadt als einziger ernsthafter Bieter im Oktober für 820.000 Euro den Zuschlag erhielt, war das Problem zwar gelöst – aber es blieb ein Geschmäckle.
Das traf auch auf einen anderen Immobilienfall zu: Lutz Basse, Chef der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Saga, wollte sich gern nebenberuflich in den Aufsichtsrat der Deutschen Annington berufen lassen, der größten und nicht eben tadellos beleumundeten Wohnungsgesellschaft des Landes. Dass es für ein paar Sitzungen pro Jahr 100.000 Euro gegeben hätte, hatten Basse und seine Vorgesetzte, Bausenatorin Jutta Blankau (SPD), leider „übersehen“. Auch hier funktionierte das SPD-Risikomanagement letztlich: Erst wollte Basse das Geld spenden, dann verzichtete er ganz auf den Posten – da hatte die Opposition schon Blankaus Rücktritt gefordert.
Zu einem „Problem“ wurden auch die Kitas – sehr zum Ärger der SPD, die sich eigentlich für die Gebührenabschaffung feiern lassen wollte. Dabei war allerdings die Betreuungsqualität etwas aus dem Blickwinkel geraten, und erst massiver Protest von Erzieherinnen, Kita-Betreibern und Eltern brachte sie im Herbst zurück in den SPD-Fokus. Eigentlich hatte die keine weiteren Wohltaten geplant, aber bevor die „Ernte“ verhagelt wurde, reagierte sie dann doch und kündigte Verbesserungen für die nächste Wahlperiode an. Pflügen und Säen fallen hier also zusammen.
Es gab allerdings auch etliche Probleme, die der Senat nicht oder nur bedingt aktiv beseitigen konnte. Dazu zählte der Streit um G9: SPD und alle anderen Bürgerschaftsparteien argumentierten zwar nach Kräften gegen die Volksinitiative um Mareile Kirsch, die an allen Gymnasien wieder das Abitur nach neun statt acht Jahren möglich machen wollte. Aber letztlich scheiterte die Initiative an ihrer fehlenden Mobilisierungskraft: Von den 63.000 Unterschriften, die zur Erzwingung eines Volksentscheids nötig gewesen wären, fehlten rund 20.000, obwohl das Ansinnen bei den Bürgern Sympathie genoss.
Auch in Sachen Elbvertiefung stieß der Senat an Grenzen: Statt für das Projekt grünes Licht zu geben, entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im Juli, nicht zu entscheiden, sondern erst auf eine Stellungnahme des Europäischen Gerichtshofs zu warten – die vielleicht schwerste Schlappe für Scholz in diesem Jahr. Die Wut der Wirtschaft trifft aber weniger den Bürgermeister als vielmehr die Grünen, die die gegen die Ausbaggerung klagenden Umweltverbände unterstützen.
Wirklich unnachgiebig hat sich der Senat 2014 nur bei drei großen Themen gegeben: im Streit um die Hochschulen, bei der Flüchtlingsfrage und – mit Abstrichen – der Busbeschleunigung. Die Unis protestieren gegen die Vereinbarung, dass ihre Zuwendungen bis 2020 jährlich um 0,88 Prozent steigen. Was Uni-Präsident Dieter Lenzen anfangs noch als historische Planungssicherheit bejubelt hatte, ist ihm und seinen Kollegen nun zu wenig. Bislang zeigt ihm der Senat aber die kalte Schulter und verweist auf große Rücklagen der Unis – Fortsetzung folgt. Das gilt auch für die vielen Flüchtlinge, die unvermindert in die Stadt streben und bei denen der Senat jeweils streng nach Rechtslage ein Bleiberecht prüfen will, während vor allem Linke, Grüne und Kirchen mehr moralische Maßstäbe anlegen wollen.
Auf den Protest gegen die Busbeschleunigung, gegen die eine Volksinitiative mobil macht, hat der Senat zwar offiziell nicht reagiert. Intern wird bei dem Thema aber abgerüstet, das Wort taucht zum Beispiel im SPD-Wahlprogramm nicht mehr auf, und es mehren sich die Hinweise, dass die Umsetzung vorerst etwas entschleunigt wird.
Bleibt als Letztes das Prinzip des Säens, das naturgemäß vor dem Ernten steht. Neue große Versprechen hat Scholz zwar nicht verkündet. Aber mit der geplanten Olympiabewerbung hat sich der Senat vor allem auf Betreiben von Innen- und Sportsenator Michael Neumann ein Thema gesucht, das im Idealfall positiv besetzt ist – allerdings deuten Umfragen darauf hin, dass bei den Hamburgern noch Überzeugungsarbeit zu leisten ist.
Der Bürgermeister selbst hat als neues Spielfeld den „Hamburger Osten“ entdeckt, wo an den vielen Wasserläufen 20.000 neue Wohnungen entstehen sollen. Und dann ist da noch die U5, jene von Scholz als Antwort auf die Stadtbahnpläne von CDU und Grünen präsentierte U-Bahn nach Steilshoop im Osten und zu den Arenen im Westen. Glaubt man den Grünen, taucht sie, dem Ungeheuer von Loch Ness gleich, immer nur kurz vor Wahlen auf. Notieren wir also für Herbst 2019 im Kalender: „Nessie suchen“.