Vor dem ersten Bundesligaspiel 2023 sollte sich der HSV Hamburg als Tabellenachter höhere Ziele setzen.

Vermutlich kann sich jeder an diese bestimmte Sorte Kinder aus der Schulzeit erinnern. Zumindest in meiner Klasse gab es leider einige von ihnen. Vor der Matheklausur, nach der Matheklausur und auch in den Minuten, bevor der Lehrer die korrigierte Arbeit zurückgab, lagen sie mir in den Ohren. „Ich glaube, das wird eine Fünf“, hieß es dann zum Beispiel. Oder: „Oh nein, die ersten Aufgaben habe ich hundertprozentig falsch. Ich hoffe, ich bekomme noch eine Vier.“ Als die benoteten Klausuren dann ausgeteilt waren, konnte ich in die grinsenden Gesichter nur schwer hineinschauen. Natürlich hatten diese Kinder keine Vier oder Fünf, sondern eine Eins oder – Gott bewahre – eine Zwei geschrieben. Wie eigentlich immer.

Diese Strategie, mit geringen Erwartungen automatisch eine möglichst niedrige Fallhöhe zu kreieren, gibt es auch im Sport. Wer keine Erwartungen schürt, sich keine hohen Ziele setzt, kann nur positiv überraschen, denken sich viele.

HSVH muss nicht extra betonen, dass er bei einer der besten Mannschaften der Welt antritt

Grundsätzlich ist diese Herangehensweise nichts Schlechtes. Wenn der HSV Hamburg (HSVH) etwa am Sonntag beim amtierenden deutschen Handballmeister SC Magdeburg ins Bundesligajahr 2023 startet, weiß jeder, dass der Sieg für die Hamburger nur eineinhalb Jahre nach dem Aufstieg ins deutsche Handball-Oberhaus nicht besonders hoch ausfallen dürfte – und die Reise zum Club-Weltmeister nach Sachsen-Anhalt in schätzungsweise neun von zehn Fällen mit null Punkten enden wird. Der HSVH muss aber vorher nicht extra betonen, dass er bei einer der besten Mannschaften der Welt antritt. Die Ausgangslage ist bekannt.

Albern wird es dann, wenn ganz offensichtliche, deutlich bessere Ausgangs­lagen bewusst heruntergespielt werden. Sowie bei den notorischen Einserschülern, die mir weismachen wollten, wie schlecht sie doch abschneiden würden.

HSVH sollte Saisonziel nach oben korrigieren

In der Fußball-Bundesliga ist Union Berlin zurzeit das beste Beispiel für dieses unerträgliche Understatement. Noch vor einer Woche sprach Trainer Urs Fischer vom 40-Punkte-Ziel, das sich der kultige Außenseiter aus Köpenick gesetzt hatte. Vielen Fans dürfte diese Bescheidenheit gefallen haben, schließlich ist es, ausschließlich an den finanziellen Mitteln eines Clubs wie Union gemessen, nicht abwegig, den Klassenerhalt als Ziel auszurufen. Wer aber nach
19 Spieltagen als Tabellenzweiter der Bundesliga nur einen Punkt Rückstand auf den FC Bayern hat und obendrein in der K.-o.-Runde der Europa League gegen Ajax Amsterdam antreten darf, ist alles – aber kein Abstiegskandidat.

Albern ist das vor der Saison ausgegebene und bisher noch nicht nach oben korrigierte Ziel Klassenerhalt des HSVH nicht. Mit einer positiven Punktedifferenz (19:17) und Tabellenrang acht sollte der Verein es trotzdem nach oben korrigieren, um perspektivisch nicht am Union-Berlin-Syndrom zu erkranken.

Um es ganz deutlich zu sagen: Alles andere als eine Platzierung unter den besten zehn Mannschaften am Saisonende wäre eine Enttäuschung, wenn alle Schlüsselspieler gesund bleiben sollten. In Johannes Bitter hat der HSVH nicht nur einen der statistisch besten Torhüter der gesamten Liga, sondern auch einen erfahrenen Anführer. Linksaußen Casper Mortensen führt mit 127 Treffern seit Monaten die Torschützenliste der Bundesliga an, Rückraumspieler Jacob Lassen ist zudem mit 90 Toren der drittbeste Feldtorschütze der Liga.

HSVH: Woher kommt diese Angst vor dem Scheitern?

Nun könnte man dagegenhalten, dass der Erfolg meinen tiefstapelnden Mitschülern und auch Union Berlin recht gegeben hat. Wer aber sagt, dass sie mit realistischer formulierten Zielen nicht denselben Erfolg gehabt hätten? Und woher kommt diese Angst vor dem Scheitern?

Natürlich weiß niemand, welche Ziele sich Union Berlin oder der HSVH intern setzen, ob diese ambitionierter sind als bisher in der Öffentlichkeit kommuniziert. Dennoch kann der Druck, den man auch durch öffentlich formulierte Ansprüche aufbaut, beflügeln. Hier lohnt es sich, ein Blick auf die Besten zu werfen. So gut wie jeder Champions-League-Sieger, Grand-Slam-Gewinner oder Super-Bowl-Champion der vergangenen Jahrzehnte hat vor dem Triumph auch von diesem maximalen Erfolg gesprochen. Nur wer sich hohe Ziele setzt, kann diese auch erreichen.

Ich selbst habe in Mathe übrigens so gut wie nie eine Eins geschrieben. Aber zumindest war ich ehrlich, wenn ich nach meinen Erwartungen gefragt wurde.