Hamburg. Die Siegermentalitätsstrategie von Trainer Tim Walter wirkt: Die Hamburger reißen die Fans wieder mit. Wie sich das Team verändert hat.

Nach dieser denkwürdigen Pokalnacht des HSV im Volksparkstadion gegen den KSC gibt es einige Optionen, um das Geschehene historisch angemessen einzuordnen. Zum Beispiel das Thema Elfmeterschießen. Blicken wir kurz in die Geschichtsbücher: Dreimal in Folge diese 1970 eingeführte Ausscheidung aus elf Metern erfolgreich im DFB-Pokal zu überstehen, ist bisher neben dem HSV erst einer deutschen Mannschaft gelungen, dem FC Carl Zeiss Jena in der Saison 1997/98. Übrigens gegen den FC St. Pauli, den VfR Mannheim und Hannover 96. Im Viertelfinale war dann allerdings nach einem vergleichsweise profanen 1:2 gegen den MSV Duisburg Schluss.

Sollten es die Hamburger tatsächlich bis ins Pokalfinale schaffen, würden sie dem VfB Stuttgart (Saison 1996/97) und Eintracht Frankfurt (2016/17) nacheifern, die ebenfalls dreimal erst über die Duelle vom Punkt die nächste Runde erreichten, allerdings nicht in Serie – und noch ist das Halbfinale ja nicht gespielt.

1:1 gegen Holstein Kiel, 2:1 gegen FC St. Pauli

Ob sich die aufreibenden und kräftezehrenden 120 Minuten positiv oder negativ auf die nächste ungemein wichtige Zweitliga-Partie beim 1. FC Nürnberg auswirken werden? Völlig offen. Dem ersten Elfmeterschießen in Nürnberg folgte ein 1:1 gegen Holstein Kiel, dem zweiten ein 2:1-Sieg gegen den FC St. Pauli (nach Rückstand).

Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch groß, dass das Überstehen von solchen extremen Stresssituationen die Mannschaft weiter (zusammen-)wachsen lässt und die Widerstandsfähigkeit bei Rückschlägen erhöht. Der Zusammenhalt könnte ein unschätzbarer Trumpf sein im Rennen um einen der Aufstiegsplätze.

HSV-Team ist mittlerweile deutlich verjüngt

Eine positive Entwicklung beim HSV konnte bereits seit einiger Zeit beobachtet werden: Unter dem vor der Saison verpflichteten Trainer Tim Walter hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Noch zu leidvoll sind die vielen Auftritte des Clubs in der Zweiten Liga in Erinnerung, in denen die Zuschauer die Siegermentalität vermissten und (zu Recht) eine lähmende Niederlagenvermeidungsstrategie kritisierten. Unter anderem diese Passivität kostete den HSV in schöner Regelmäßigkeit die Rückkehr in die Fußball-Bundesliga. Vor allem im Frühjahr, wenn auch die Faktoren Nervenstärke und Fokussieren eine immer größere Bedeutung gewannen.

Der Tim-Walter-Fußball mit dem im Vergleich zu früher deutlich verjüngten Team ist anders. Aktiver, agiler, risikofreudiger. Immer noch fehlerbehaftet, natürlich, aber irgendwie ehrlicher als früher. Mit der nötigen Demut gegenüber den Tücken der Zweiten Liga und einer seriösen Arbeitsauffassung.

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Der neue HSV kann Menschen wieder emotionalisieren

Noch vor Kurzem drohte dem alten HSV eine Riesengefahr: vielen Menschen gleichgültig zu werden. Ein runtergewirtschafteter Verein mit überbezahlten Spielern, die sich zu schade sind, für ihre Farben zu leiden und schon an die nächste Station denken, das sorgt für Entfremdung. Der neue HSV ist natürlich längst noch nicht perfekt, aber er ist wieder in der Lage, die Menschen für den HSV zu emotionalisieren, ähnlich wie einst bei Boris Becker. Seine Fans litten mit dem Tennisstar, wenn dieser zwei Sätze lang gar keinen Ball traf und herumfluchte. Und sie jubelten mit, wenn er sich erfolgreich gegen die drohende Niederlage stemmte.

Die euphorisierten Fans auf den Rängen, die das Stadion nach dem letzten verschossenen Elfmeter der Karlsruhe fast zum Einsturz brachten, erlebten all dies am Mittwochabend. Und manch einer dürfte inzwischen seine Meinung über Tim Walter überdenken, der mit seinem Trainingsstil, die Spieler auch mal mit spaßigen Anreizen zu führen, durchaus für Stirnrunzeln gesorgt hat. Welche Erkenntnis er aber offensichtlich vermitteln konnte: Verlieren nervt, und zwar in jeder Übung, in jedem teaminternen Wettbewerb. Und auch im Spiel.

Diesmal ist kein Neuaufbau beim HSV nötig

Ja, durchaus möglich, dass der HSV am Ende der Saison wieder auf Platz vier landet, zum vierten Mal in Folge. Anders als früher müssten die Verantwortlichen dieses Mal jedoch nicht einen Neuaufbau betreiben. Sie könnten mit dem Erkenntnisgewinn die Mannschaft weiterentwickeln und damit die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, dass es dann eben in der kommenden Saison mit dem Aufstieg funktioniert. Allein das ist schon ein großer Erfolg. Besonders für Walter.