Hamburg. Hamburger KritIken: Impfgegner und Befürworter der Corona-Politik tragen ihren Streit mit Verweis auf den Faschismus aus – das ist dumm.
„Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun“, wusste Richard Wagner – mit Deutschsein kannte sich der Mann ja bekanntlich aus. Nun beschrieb der große Komponist weder das Coronavirus noch die innenpolitische Debatte des Jahres 2022, aber ein Blick auf Deutschlands Straßen zeigt: Ganz unrecht hatte er nicht. Wenn es den Deutschen ernst ist, werden die Dinge schnell überhöht und historisch aufgeladen.
So erleben wir derzeit die bizarre Situation, dass sich auf deutschen Straßen Menschen treffen, die mit dem Rückgriff auf den Faschismus ihre Um- und Aufzüge erklären: Auf der einen Seite gibt es die Menschen, die Impfungen ebenso ablehnen wie die Corona-Maßnahmen, mitunter auch esoterischen, wirren oder rechtsradikalen Theorien anhängen – auf der anderen Seite steht ein breites „Bündnis gegen rechts“, das schon die Idee einer solchen Demonstration für einen Grund hält, um sich ins Jahr 1933 zurückversetzt zu fühlen.
Geradezu inflationär greifen beide Seiten auf die Geschichte zurück, um sich wahlweise in einer Opferrolle zu suhlen oder sich moralisch in ein besseres Licht zu stellen. Die Ungeheuerlichkeit der Naziverbrechen aber werden so zu einer rhetorischen Gewöhnlichkeit, wenn man sie ständig und allerorten (falsch) zitiert. Wer überall Nazis sieht, hat nicht nur ein Wahrnehmungsstörung, sondern verharmlost am Ende die Massenmörder.
Corona-Egoisten und moralische Selbsterhöhung
Manche Impfgegner – etwas verkürzt als Corona-Leugner über einen Kamm geschoren – halten sich allen Ernstes in einem demokratischen Rechtsstaat für Verfolgte. Man muss ziemlich durchgeplatzt und absolut schmerzbefreit sein, wenn man sich einen Judenstern ans Revers heftet und sich als Ungeimpfter mit den Verfolgten eines Terrorregimes vergleicht. Wie man allen Ernstes auf die Idee kommen kann, sich als Impfgegner wie ein Widerstandskämpfer gegen Hitler zu fühlen, bleibt jedem verborgen, dessen Synapsen noch richtig arbeiten. Da kann ich der Gegendemonstrantin vom „Bündnis gegen rechts“ nur gratulieren, die das schöne Plakat „Ihr seid nicht Sophie Scholl“ mit sich trug.
Das gilt aber auch für sie und die Gegendemonstranten. So verständlich ihr Zorn über Impfverweigerer und Corona-Egoisten auch ist, die moralische Selbsterhöhung bleibt ein Ärgernis. Da sagte das Mitglied der Piratenpartei: „Mir machen die Leerdenker-Demos Angst. Mich erinnert das an die Nazizeit.“
Wie bitte? Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Offenbar ist der Geschichtsunterricht in der Hansestadt ausbaufähig. Jedenfalls ist Hitler nicht an die Macht gekommen, weil ein paar Aluhüte und Querdenker brav durch das Berlin der 30er-Jahre getrottet sind.
Ausgrenzung befördert Radikalisierung
Ohnehin sollte man klarstellen: Nicht jeder Verirrte und Verwirrte, der eine andere Meinung hat, ist gleich Faschist. Die Nazikeule ist ein Totschlagargument. Sie macht nichts besser, sondern alles nur noch schlimmer. Sie markiert das Ende der Debatte: Mit Nazis spricht man nicht, der Andersdenkende wird kurzerhand zum absolut Bösen erklärt mit dem schönen Nebeneffekt, dass man selbst ein Grundguter wird.
Was bei wirklichen Neonazis nachvollziehbar ist, darf nicht auf viele Lebens- und Politikbereiche erweitert werden, wo die andere Meinung abweicht, stört oder nervt. Diese Ausgrenzung befördert am Ende nur eine Radikalisierung – wer ständig zu hören bekommt, er sei ein Rechter oder gar ein Nazi, wird sich am Anfang vielleicht wehren, dann einigeln und am Ende diese Zuschreibung glauben.
Genau dieser Fehler hat dazu geführt, dass in der Flüchtlingskrise 2015 manche Bürger erst ins rechte Aus gestellt wurden – und sich dann zu Rechtsaußen entwickelt haben. Die Unfähigkeit zum nüchternen, pragmatischen Diskurs hat die AfD erst groß gemacht. Diesen Fehler bei den Gegnern der Corona-Politik zu wiederholen wäre fatal – denn unter den Demonstranten sind nicht nur Soziopathen, sondern auch Homöopathen, nicht nur Politkatastrophen, sondern auch Anthroposophen.
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Aber leider hängen viele längst einem Weltbild an, das nur noch Gut und Böse kennt. Der frühere schleswig-holsteinische Innenminister Ralf Stegner (SPD) rückte jüngst auch Atomkraftfans in die Ecke von „Impfgegnern, Corona-Leugner und Rechtsradikalen“. Stegner ist klug genug, um zu wissen, wie Radikalisierung funktioniert. Allen anderen sei der Blick in die Geschichte empfohlen.