Mitgliederversammlungen produzieren manch Skurriles – aber haben dennoch einen hohen gesellschaftspolitischen Wert.

Demokratie kann anstrengend sein, verdammt anstrengend sogar – und zeitraubend. Das gilt auch, oder sogar ganz besonders, in Sportvereinen. Wer dies nicht glauben mag, hätte am Mittwochabend und in der ersten Stunde des Donnerstags nur einmal bei der Mitgliederversammlung des FC St. Pauli dabei sein müssen.

Da wird dann nicht nur über mehr oder weniger durchdachte Anträge diskutiert und abgestimmt. Das wäre ja zu einfach. Vielmehr wird schon vorher zur Diskussion gestellt, ob über einen vemeintlich brisanten und potenziell zu Kontroversen führenden Antrag, der erst viel später am Abend auf der Tagesordnung steht, vielleicht doch lieber geheim als per Akklamation abgestimmt werden solle, weil sich ja möglicherweise der eine oder andere gegenüber anderen Mitgliedern schämen könnte, dass er dafür oder dagegen ist. Verstanden hatten das natürlich nicht alle, und prompt meldete sich schon jemand inhaltlich zu diesem Antrag zu Wort.

Letztlich war es in diesen sechs Stunden in der Messehalle B6 der wieder einmal souveränen Leitung von Rechtsanwalt Christian Heiser zu verdanken, dass die Versammlung bis auf ganz leichte Turbulenzen in sehr geordneten Bahnen ablief. Das hat man, längst nicht nur beim FC St. Pauli, auch schon ganz anders erlebt – bis hin zu handfesten Aus­einandersetzungen etwa 1988 bei Eintracht Frankfurt. „Mein größter Fehler war, in diesem Verein die Demokratie einzuführen“, sagte damals der von den Fans ungeliebte Eintracht-Präsident Klaus Gramlich.

Längst nicht mehr in allen Proficlubs können die Mitglieder so mitreden wie beim FC St. Pauli, dessen Profifußballbereich weiterhin im eingetragenen Verein angesiedelt ist. Beim HSV haben sich vor Jahren sogar die Mitglieder selbst der Möglichkeit beraubt, über die wichtigsten Angelegenheiten ihres Clubs mitreden und mitentscheiden zu können. Die Ausgliederung des Profifußballs in eine AG war angeblich der einzige Weg in eine sportlich und wirtschaftlich goldene Zukunft. Das Ergebnis ist bekannt.

Und doch ist der Zulauf an neuen Mitgliedern, hier wie dort, offenbar unaufhaltsam. Dabei wollen die wenigsten selbst Sport treiben. Beim FC St. Pauli sind inzwischen 17.000 der insgesamt gut 30.000 Mitglieder in der Abteilung Fördernde Mitglieder (AFM) organisiert, beim HSV gehören rund 65.000 der insgesamt 88.000 Mitglieder dem „Supporters Club“ an.

Was aber treibt die Menschen in die großen Proficlubs, in einer Zeit, in der traditionelle gesellschaftliche und demokratische Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen überwiegend einen Mitgliederschwund beklagen? Es ist bei allem Drang zu Individualität oder auch Egoismus wohl doch die grundsätzliche Neigung vieler Menschen, sich in einer Gemeinschaft von grundsätzlich Gleichgesinnten wohler zu fühlen anstatt als Einzelkämpfer.

Dabei fällt das Bekenntnis zu einem Fußballclub, sogar unabhängig von dessen sportlichem Erfolg, heute offenbar wesentlich leichter als etwa zu einer der sogenannten „Volksparteien“, die immer mehr an Profil verloren haben. Inzwischen erkennen die Vereine, dass sie von diesem Trend nicht nur wirtschaftlich profitieren (da die Fanmitglieder im Gegensatz zu den sporttreibenden kaum Kosten verursachen), sondern dass sie auch einer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden müssen. Die These, der Sport sei nicht politisch, ist längst überholt. Große Vereine sind heute sehr wohl in der Lage, Menschen in großer Zahl etwa für soziale Projekte zu sensi­bilisieren.

So eine nächtliche Mitgliederversammlung ist ein Lehrstück für gelebte Demokratie und sorgt nebenbei auch für manch unvergessliche Erinnerung. St. Paulis Präsident Oke Göttlich kann jetzt jedenfalls von sich behaupten, in einer riesengroßen Messehalle gemeinsam mit ein paar Hundert Gästen in seinen 44. Geburtstag hineingefeiert zu haben. Die Getränkelage allerdings war dann doch etwas dürftig.

Im Sport: St. Paulis Frauenquote