Beim 102. Hamburger Pflichtspielderby heißt es wieder “David gegen Goliath“. Doch das muss nicht so bleiben.
Gäbe es ein HSV-FC-St.-Pauli-Quartett, hätten die Besitzer der braun-weißen Karten wenig Spaß beim Spielen. Stadionkapazität: 57.000 zu 29.546. Vermarktung des Stadionnamens: vier Million Euro (dank Klaus-Michael Kühne) zu null Euro. Spielermarktwert laut „Transfermarkt.de“: 48,7 zu 21,03 Millionen Euro. Auch beim Umsatz (130 zu 50 Millionen Euro) und dem Profi-Etat (28 zu 13 Millionen Euro) liegen kleine Welten zwischen den Lokalrivalen. Selbst bei den Verbindlichkeiten (rund 85 zu 43 Millionen Euro) können die „Boys in Brown“ nicht mithalten ...
Eigentlich war es seit dem ersten Pflichtspielduell am 7. Dezember 1919, als der HSV den „Hamburg-St. Pauli Turnverein“ mit 9:0 verprügelte, gefühlt immer eine Art Klassenkampf, eine Partie des Underdogs gegen das Establishment. An dieser Rollenverteilung hat sich auch vor dem 102. Hamburger Pflichtspielderby in der Zweiten Liga am Montagabend zu bester Sky-Fernsehzeit nichts geändert. Ein HSV-Sieg würde nur die aktuellen Verhältnisse widerspiegeln, bei einem überraschenden (und seltenen) Erfolg der Millerntor-Elf wären Schadenfreude und Spott unter den Nicht-HSV-Anhängern gewaltig.
Stadtderby: Was wichtiger als das Ergebnis ist
Der Hype um dieses Spiel ist naturgemäß wieder groß, so häufig kam es ja in den vergangenen Jahren nicht zu diesen Treffen. Aber jetzt mal ehrlich: Letztlich ist der Ausgang dieses einzelnen Spiels nur von geringer Bedeutung, eine nette Momentaufnahme. Viel interessanter ist die Fragestellung, ob die zementierte Machtstellung im Hamburger Fußball jemals aufgebrochen werden kann.
Die spontane Antwort lautet: Nein, dazu hat der HSV strukturell einfach ganz andere Möglichkeiten. Und auf den zweiten Blick? In der Wachstumsbranche Fußball ergeben sich auch für Clubs wie den FC St. Pauli rasante Aufstiegsmöglichkeiten. Wie sich innerhalb weniger Jahre eine Dynamik entwickeln kann, wenn sich ein Club in der Bundesliga halten kann, zeigt sich beim FC Augsburg und dem SC Freiburg. Alleine an TV-Geldern nehmen die Augsburger (47 Millionen Euro) in dieser Saison 27 Millionen Euro mehr ein als der HSV in der Zweiten Liga, bei den Badenern sind es immerhin 15 Millionen Euro mehr.
Umgekehrt hat der HSV eindrucksvoll in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, wie man problemlos bummelig 100 Millionen Euro ohne das richtige Konzept und mit vielen fatalen Personalentscheidungen in der Führung und im Kader verpulvern kann.
Trainerverschleiß: St. Pauli auf den Spuren des HSV
Jetzt wieder nur mit dem Finger auf den HSV zu zeigen wäre allerdings ungerecht. Auch der FC St. Pauli hat (vor allem mit dem Stadionneubau) längst die Voraussetzungen geschaffen, um dauerhaft im oberen Drittel der Zweiten Liga mitzuspielen. Eine Dekade lang in der Zweitklassigkeit zu verharren ist jedoch ein klarer Beleg dafür, dass St. Pauli – gemessen an den besseren Möglichkeiten – wahrlich keine gute Performance hingelegt hat. Davon zeugen auch die vielen Personalwechsel.
In der Disziplin Trainerverschleiß führt der HSV – Dieter Hecking ist Fußballlehrer Nummer sechs seit 2016 – im Vergleich zu den anfangs genannten Kennzahlen schon knapper vor St. Pauli, wo nach Ewald Lienen (hörte 2017 auf), Olaf Janßen und Markus Kauczinski nun Jos Luhukay sein Glück versucht.
Ähnlich schwach ausgeprägt bei beiden Clubs ist auch die Konstanz in der sportlichen Führung, womit wir auch bei einer Hauptursache sind, warum der HSV seinen Dino-Status verloren und der FC St. Pauli die Chance verpasst hat, den ungeliebten Nachbarn zu überholen.
Der große Unterschied: Weil der HSV mit seinem quälend langen Abschied aus dem Oberhaus wie immer die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, kommt der FC St. Pauli selbst bei unangenehmen Nachrichten ungeschoren davon. Was hätte man wohl gesagt bei der Überschrift: „Wegen Freikarten – Steuerrazzia beim HSV“. Genau, wieder typisch HSV. Passiert ist das aber dem Kiezclub. In diesem Bereich wird es der FC St. Pauli noch lange Zeit nicht schaffen, den HSV zu übertrumpfen.