Hamburg. Dieses Ergebnishinterlässt Spuren – derzeit werden nicht viele Geld auf den Verbleib von Andrea Nahles an der Spitze der SPD setzen.
Vielleicht sollte die SPD den Buchstaben B aus dem Alphabet streichen: Egal, ob in Bremen, Berlin oder Brüssel – dieser Superwahlsonntag wird die Partei noch tiefer in die Krise stürzen. Ihre Hochburg an der Weser ist geschleift – erstmals könnte ein Christdemokrat in Bremen regieren.
Bei der Europawahl sind die stolzen Sozialdemokraten auf Rang 3 gestürzt, hinter eine taumelnde Union und die Grünen, eine Geliebte des Zeitgeistes. Das Ergebnis wird in der Bundespolitik Spuren hinterlassen – derzeit werden nur Spekulanten Geld auf den Verbleib von Andrea Nahles an der Spitze der SPD setzen. Der 26. Mai könnte die Republik verändern.
Populisten legen zu, sind aber weit von ihren Zielen entfernt
Und Europa sowieso. Immerhin: Die schlimmsten Befürchtungen haben sich nicht bestätigt. Die Populisten haben zugelegt. Sie sind aber weit davon entfernt, stärkste politische Kraft in Brüssel zu werden. Offenbar hat die rechte Internationale, die sich von den Wahren Finnen bis zur Lega Nord, von der AfD bis zur FPÖ spannt, an Momentum verloren.
Und schon bald wird sich zeigen, wie einig diese zusammengewürfelten Truppen sind. Es werden sich in der Fraktion gewaltige Fliehkräfte entfalten, wenn italienische Populisten auf EU-Kosten Geschenke verteilen – oder die putinfreundliche AfD auf russlandkritische Populisten aus Bulgarien trifft.
Brexit als heilsamer Schock
In vielen Staaten scheint der Brexit ein heilsamer Schock gewesen zu sein. Das Desaster auf der Insel vor Augen, verabschiedeten sich selbst Populisten von eigenen Ausstiegsszenarien; zugleich haben die Wähler vielerorts wie in Holland die Mitte wiederentdeckt.
Auch die Wahlbeteiligung ist deutlich gestiegen. Das gilt aber nicht für alle Staaten: In Tschechien wählte nur jeder fünfte Bürger. Bei allem Verständnis für die Vorbehalte der jungen mittelosteuropäischen Staaten, Souveränität nach Brüssel abzugeben: Diese Wahlbeteiligung ist enttäuschend. Europa ist mehr als ein prall gefüllter Geldautomat für die eigene Regionalentwicklung – es wird höchste Zeit, dies einmal deutlich zu machen.
SPD und CDU bekamen ihre Quittung
In Deutschland haben die Parteien der Großen Koalition gewaltig Federn lassen müssen – sowohl die SPD als auch die CDU bekamen ihre Quittung für eine ambitionslose und wenig zukunftsfähige Politik in Berlin. Vieles an der Kritik der vergangenen Tage mag unfair sein, manches wie im heiß diskutierten Rezo-Video ist sogar gefährlich vereinfachend. Aber die großen Herausforderungen gehen im großkoalitionären Klein-Klein unter: Wie bringen wir den Klimaschutz voran? Wie stärken wir die Wirtschaft angesichts der Verwerfungen? Wie kitten wir die Risse in der Gesellschaft? Stattdessen streiten Union und SPD über Grundrente oder Grundsteuer – so wird diese Große Koalition auf Grund laufen. Die Personalquerelen, die Kabale und die Intrigen ruinieren ihren Ruf weiter. Und die Grünen triumphieren.
Stimmung für Große Koalition ist schlecht wie nie
Natürlich sind Europawahlen keine Bundestagswahlen – ein Stimmungstest sind sie allemal. Und die Stimmung für die Große Koalition ist so schlecht wie nie. Nach den Hochrechnungen kommen SPD und Union gemeinsam auf 43,5 Prozent – noch vor zehn Jahren erhielten allein die Christdemokraten 42,8 Prozent. Ebenfalls enttäuschend verliefen die Wahlen für die FDP und Die Linke.
Angesichts der Fixierung auf den Rechtsruck – der im Vergleich zu Großbritannien, Frankreich oder Italien gottlob nur ein Rückchen ist – geht noch ein weiteres Ergebnis unter: Die Kleinstparteien, darunter skurrilste Gruppierungen, sind die Gewinner der Europawahl in Deutschland. Sie erhielten fast 14 Prozent, deutlich mehr als die AfD mit 10,5 Prozent. Dies ist geradezu ein Ausrufezeichen für die Fünfprozenthürde.
Bremer Sensation schrumpft fast zur Randnotiz
Die Bremer Sensation schrumpft da fast zur Randnotiz. Das kleinste Bundesland hat es durch den Wahltermin geschafft, sich politisch noch kleiner zu machen, als es ist: Die mögliche Wende an der Weser läuft im Windschatten Europas. Dabei war die Bremer Wahl spannend wie selten zuvor: Die SPD, die seit dem Krieg ununterbrochen an der Weser regierte, musste erstmals einen Spitzenkandidaten auf Augenhöhe fürchten.
Der CDU gelang mit Carsten Meyer-Heder ein Coup: Plötzlich hat sie ein ähnliches Ergebnis wie die Union bundesweit. In Bremen! Indem sich SPD-Bürgermeister Carsten Sieling im Wahlkampf wie ein Kenternder an die rot-rot-grüne Option klammerte, hat er dem bürgerlichen Lager den letzten Schub gegeben. Auch wenn Die Linke in Bremen pragmatisch ist, hat sich die SPD von ihrem Erfolgsrezept entfernt: Anders als die Hamburger SPD ist sie eben nicht mehr die breit aufgestellte Hansestadt-Partei für Reeder und Hafenarbeiter, für Bürger und Linksliberale, sondern eine linke Partei mit einem linken Bürgermeister.
Damit wiederholt die Sozialdemokratie den Fehler, der sie allüberall mehr und mehr marginalisiert: Sie geht lieber mit einer linken Agenda unter, als mit einem Parteirechten zu siegen. In Bremen hat die SPD gestern mehr als acht Prozentpunkte verloren.
Quereinsteiger zahlt sich für die CDU aus
Für die CDU hingegen zahlt sich aus, dass sie in Zeiten der Politikerverdrossenheit einen Quereinsteiger aufgestellt hat: In seiner Jugend lebte Meyer-Heder als Hippie in einer Zehner-WG, später hatte der 58-Jährige Erfolg als Unternehmer. Der Mann ist politisch eine Große Koalition in einer Person, sieht dabei aber deutlich frischer aus. Die Verlierer vom Sonntag sollten sich diesen Gewinner näher anschauen.
Es wird spannend, wie sich die neue grüne Volkspartei in Bremen entscheiden wird – für ein rot-rot-grünes Bündnis mit dem Verlierer SPD. Oder für eine Jamaika-Koalition der Sieger.
Grüne in Hamburg stärkste Partei
Auch in Hamburg wird das Europa-Wahlergebnis die Politik im Rathaus aufmischen: Die Grünen wurden an der Elbe mit Abstand die stärkste Partei. Ihr Vorsprung zur SPD liegt inzwischen bei rund elf Prozent – bei der Bundestagswahl vor 20 Monaten war es noch genau andersherum. Das zeigt, wie sehr die politischen Strömungen sich derzeit verändern. Und wie schwer die Bürgerschaftswahl in neun Monaten für die Sozialdemokraten werden könnten.