Chaos auf der wichtigen Strecke ist eine Blamage – auch für die Politik
Der Theaterkritiker Alfred Kerr hat die Deutsche Bahn des 21. Jahrhunderts nie erlebt – er starb schon 1948 in Hamburg. Aber sein Bonmot klingt wie für den Konzern gedichtet. „Mensch, mein Urteil will nicht frech sein, und ich übe gern Geduld; neunmal Pech mag neunmal Pech sein – aber zehnmal Pech ist: Schuld.“
Von Pech redet im Norden längst kein Pendler und kein Reisender mehr, der zwischen Hamburg und Sylt unterwegs ist. Von Woche zu Woche kommt es zu neuen Behinderungen, Verspätungen, Zugausfällen. Am Pfingstwochenende mussten Autofahrer wegen einer technischen Störung an einer Lok bis zu sechs Stunden warten. Am Wochenende sackten Schienen ab, 33 Züge fielen aus, wieder mussten viele Kunden bei der Autoverladung mehrere Stunden ausharren. Am gestrigen Montag, an dem sich der Verkehr eigentlich wieder normalisieren sollte, sprach die Bahn dann von einer „Großstörung“. Über Stunden fuhr kein Zug fahrplanmäßig in Altona nach Sylt ab – alle Reisenden mussten über andere Hamburger Bahnhöfe umgeleitet werden und in Elmshorn umsteigen. Es ist quasi das Sahnehäubchen auf einer Pannenserie, die seit Monaten die Marschbahn erschüttert. Defekte Kupplungen, alte Züge, Betriebsstörungen, Ausfälle – das Desaster geht so weit, dass frustrierte Bahnkunden im Oktober 2017 den Zugverkehr in Klanxbüll blockierten.
Dabei sollte eigentlich alles besser werden, als die Deutsche Bahn vor eineinhalb Jahren die Strecke von der privaten Nord-Ostsee-Bahn übernommen hatte: 20 Minuten schneller sollte die Verbindung werden, besser, zuverlässiger. Das Gegenteil trat ein. Inzwischen haben die Behinderungen ein Ausmaß erreicht, das Sylt massiv schadet: Viele Beschäftigte erreichen ihren Arbeitsplatz nur noch verspätet; viele Urlauber kommen genervt auf die Insel oder gar nicht mehr. Der Sylter Bürgermeister wirft Bahn und Bundesregierung „Sabotage des Tourismus“ vor. Der einzige Profiteur der Chaosbahn ist die Fähre, die List mit Havneby auf der Insel Röm in Dänemark verbindet.
Nun will die Politik eingreifen und die Bahn unter Druck setzen. Zweifellos hat der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP) recht, wenn er der Bahn eine katastrophale Situation vorwirft und Strafen verhängen will.
Aber ganz so einfach ist es nicht: Denn die Politik trägt ein gerüttelt Maß Mitverantwortung für die desolate Lage der Marschbahn. Die Privatisierung hat die Bahn eben nicht besser gemacht, sondern nur kurzfristig renditestärker. Statt langfristig in die Infrastruktur zu investieren, wurden schnelle Gewinne wichtiger. Gerade die extrem erlösstarke Sylt-Verbindung wird seit Jahren auf Verschleiß gefahren. Das rächt sich jetzt bitter.
Zudem wird der Norden seit Jahrzehnten aus Berlin stiefmütterlich mit Investitionsmitteln versorgt – das Geld fließt vorzugsweise in die Heimat der bayerischen Bundesverkehrsminister und nicht dorthin, wo es am dringendsten benötigt wird. Der zweigleisige Ausbau der Strecke nach Sylt ist lange überfällig, passiert ist gar nichts.
Für die Bahn und ihren Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla sollte das Sylt-Desaster kein lokales Problem im hohen Norden sein, sondern eine Herausforderung für den ganzen Konzern. Da kommt zu wenig vom einstigen CDU-Minister. So ramponiert die Bahn ihren ohnehin bescheidenen Ruf auf Deutschlands Lieblingsinsel. Spätestens in den Sommerferien wird das Sylt-Chaos Pofallas Problem.