Chefdirigent Thomas Hengelbrock verlässt das NDR-Orchester und die Elbphilharmonie im Zorn

Die Elbphilharmonie wiegt rund 200.000 Tonnen. Das stemmt niemand mal eben von jetzt auf gleich. Das kann die Stärksten in die Knie zwingen. Doch auch konzeptionell ist sie eine ebenso brutal große Belastung, wie sie historische Chance ist. Dass der NDR-Chef­dirigent Thomas Hengelbrock, der von seinem Arbeit­geber stets als Mischung aus everybody’s darling und Gottesgeschenk inszeniert wurde, nun ein Jahr früher als geplant seinen Frack einpackt und sich schon im Sommer 2018 im Zorn von der spektakulärsten Adresse der Klassikwelt trennt, ist erstaunlich und verständlich zugleich. Dieser vorgezogene Rücktritt ist aber auch ein Warnsignal an alle Verantwortlichen in der Musikstadt Hamburg. Es sagt ­ihnen: Glaubt nur nicht, dass ihr euch auf den mittlerweile angehäuften ausländischen Jubel-Artikeln ausruhen könntet. Der Spaß geht hier weiter, klar; die harte Arbeit, damit und dafür, aber erst recht. Die gemütliche Zeit des halbherzigen „Na mal sehen“ ist jedenfalls auf ewig vorbei.

Joachim Mischke, Kulturredaktion
Joachim Mischke, Kulturredaktion

Hengelbrocks gezielter Tritt vors NDR-Schienbein ist auch ein Abschied mit Ansage. Er wollte seinen Vertrag, der 2019 endet, nicht weiter verlängern. Nachdem im Juni endlich verkündet wurde, was wochenlang durch die Szene gerüchtete, berief der NDR mit dem New Yorker Alan Gilbert demonstrativ flott einen alten NDR-Bekannten zum Nachfolger. Und das, während der jetzige Chef zeitgleich für NDR-Konzerte probte und innerlich wohl schäumte über den bedingt freundlichen Behandlungsklassiker „Der König ist tot, es lebe der ­König!“

Seit Gilberts Salbungszeremonie musste Hengelbrock als lame maestro gelten, für alle sichtbar. Eigenen Aussagen zufolge wollte das Tutti beim Proben nicht immer so wie er. Auch die ­öffentlich-rechtlichen Autoritätsstrukturen trugen offenbar nicht zur Wohltemperierung des Umgangs mit dem sehr selbstbewussten Künstler Hengelbrock bei. Wann wer wem ­zuerst gesagt hat, dass die ­Zusammenarbeit bitte bald enden ­möge, wird sich von außen kaum klären lassen. Hengelbrock ist ja auch nicht der erste NDR-Maestro, der sich vorzeitig mit den Umständen überwarf. Doch er ist der bislang wichtigste in der ­Geschichte des Orchesters, abgesehen vom Gründer Hans Schmidt-Isser­stedt. Denn Hengelbrock war gerade dafür geholt worden, diesen Klangkörper elbphilharmoniereif zu trainieren. Ihn besser und vielseitiger werden zu lassen und als teuer erkauftes Elbphilharmonie-Residenzorchester auf das Niveau der neuen Stammspielstätte zu bringen. Ein irrer Job, um den Hengelbrock viele beneidet haben dürften – aber gerade deswegen auch nicht. Denn Scheitern, woran auch immer, durfte keine Option sein. Trotzdem (oder deswegen?) gelang nicht ­alles dem Wunschzeitplan gemäß.

Für Phase zwei der Elbphilharmonie-Erfolgsgeschichte wäre ein(e) radikale(r) Weiterdenker-Dirigent(in) denkbar und notwendig ­gewesen. Es kam der NDR-Ex Alan Gilbert. Der muss nun noch schneller als gedacht beweisen, dass er mehr ist und mehr leistet als in New York, wo sein Vertrag endete. Und das sagt auch etwas über die internationale Branchen-Attraktivität des NDR-Orchesters mit und trotz Elbphilharmonie. Die langjährige NDR-Klangkörpermanagerin Andrea Zietzsch­mann hätte mehr als die ersten Spielzeit-Monate live miterleben können. Es kam anders. Sie ging lieber als Intendantin zu den Berliner Philharmonikern. Erstaunlich und verständlich ­zugleich auch das. Unter dem Strich heißt all das für Hamburg: Es bleibt toll, es wird immer schwieriger.