Nach dem Rücktritt des Aufsichtsratschefs ist Heribert Bruchhagen nicht zu beneiden

Im Mai 2015 schrieb Otto Rieckhoff allen Aufsichtsräten einen Brief mit der Überschrift: „HSVPLUS – Konzept und Wirklichkeit“. In der dreiseitigen Analyse stellte der Initiator der Ausgliederung den Handlungsträgern ein vernichtendes Zeugnis aus und schloss in seinem Fazit mit den Worten: „Die auf dem Silbertablett servierten Chancen zum kompletten Neuanfang sind (...) sträflich ignoriert worden. Aus meiner Sicht muss der HSV deshalb im AG-Bereich auf LOS zurück.“

Keine Entschuldung des HSV, die zu billige Abgabe von Anteilen, die Nähe des Aufsichtsratschefs Karl Gernandt zu Investor Klaus-Michael Kühne, der Mangel an sportlicher Kompetenz, die miserable Außendarstellung – die Mängelliste Rieckhoffs war damals lang. Doch erst mit eineinhalb Jahren Verspätung drückt man beim HSV gegenseitig die „Reset-Taste“, wie es Rieckhoff ausdrückte. Aber ob er es sich in dieser Form wünschte? Gernandt beruft Dietmar Beiersdorfer ab und tritt als Vorsitzender seines Gremiums zurück, bevor der HSV-Vorsitzende selbst seinen Stuhl geräumt hat. Wäre es nicht so traurig, müsste man von einem Komödienstadl de luxe sprechen. Warum stimmten 86,9 Prozent der HSV-Mitglieder im Mai 2014 für eine Ausgliederung der Lizenzspieler-Abteilung? Weil sie eine neue Struktur schaffen wollten, in der ein konstruktives, ruhiges Arbeiten möglich sein würde. Zweieinhalb Jahre später gilt es festzuhalten: Selbst die bestgemeinte Struktur führt zur Selbstzerstörung, wenn es nicht gelingt, sie mit den richtigen Personen zu besetzen.

„HSVPlus“ ist längst zu „HSV minus“ mutiert. Das jahrelang zu beobachtende Kernproblem, dass die ausgeprägte Eitelkeit vieler Funktionsträger als Kompass für ihre Handlungen dient, scheint noch immer nicht behoben zu sein. Wie komme ich gut raus aus der Nummer? Was dient meinen persönlichen Interessen? Jeder sagt, was ihm nutzt. Der HSV verpulverte viel Geld in die Entwicklung eines Leitbilds. Daran halten mag sich niemand.

Wenn Beiersdorfers Nachfolger Heribert Bruchhagen am heutigen Mittwoch sein Amt antritt, ist er nicht zu beneiden. Die Imagewerte des HSV sind ins Bodenlose gefallen, wohl über keinen Verein kursieren so viele Witze im Netz. Was den Job des 68-Jährigen so schwer macht: Er steigt in einer Phase des totalen Umbruchs beim HSV ein, in der – wieder einmal – der Kampf um die Machtverteilung entbrannt ist. Wie soll in den nächsten Monaten ein fruchtbares Miteinander möglich sein in einem Aufsichtsrat, in dem ein frus­trierter Ex-Chef (Gernandt) sitzt und kritisch verfolgt, was sein Nachfolger (wohl Jens Meier) so alles anstellt?

Man muss sich das mal vorstellen: Meier, der als Präsident automatisch dem AG-Aufsichtsrat angehört, kann vereinfacht gesagt mit seinen Präsidiumskollegen beim HSV e. V. entscheiden, wer vom Sommer 2017 an die restlichen fünf Aufsichtsratsplätze einnehmen darf. Dass eine Neubesetzung des Aufsichtsrats dringend erforderlich ist, dürfte nicht erst seit den jüngsten Beben klar sein. Ein Klima für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mitten in der dramatischen sportlichen Krise sieht anders aus.

Bruchhagen wiederum ist als Diplomat gefragt. Er braucht Klaus-Michael Kühne, um die Mannschaft im Winter verstärken zu können, muss sich aber zugleich vom Investor (und von Gernandt) emanzipieren, um nicht an Autorität einzubüßen. Willkommen beim HSV, Herr Bruchhagen, und viel Glück. Sie werden es brauchen.