Die Freilassung des Verdächtigen irritiert, war aber rechtens
Hinterher, sagt der Volksmund, ist man immer schlauer. Wenn ein verurteilter Straftäter nicht direkt in Haft kommt, sondern erst einmal auf freien Fuß – und offenbar gleich ein schweres Verbrechen begeht, gar der Tötung eines bekannten Unternehmers verdächtigt wird, scheint der Fall wie gemacht, um das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung empfindlich in Aufruhr zu versetzen. Warum, so möchte mancher fragen, lässt die Justiz so einen Kerl laufen? Wie kann das sein?
Die Antwort ist denkbar einfach: Weil es den Gesetzen und Bestimmungen entspricht. Wer wie der Angeklagte vor dem Landgericht Stade wegen eines Raubüberfalls zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wird, wandert in der Regel nicht direkt und unmittelbar ins Gefängnis. Solange die Gerichtsentscheidung nicht rechtskräftig ist, darf ein Verdächtiger nur unter besonderen Voraussetzungen in Haft genommen beziehungsweise behalten werden. Die Hürden dafür sind eng umrissen und sehr hoch.
Untersuchungshaft gilt ausschließlich zur Sicherung eines Verfahrens. Sie als vorweggenommene Strafhaft zu verstehen, das darf es nicht geben. Und bei einem geständigen und offenbar therapiewilligen Angeklagten und noch recht übersichtlichem Strafmaß von 36 Monaten davon auszugehen, dass der Fluchtanreiz hoch genug ist und eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls zwingend erscheint, wäre nicht leicht zu begründen. Das wissen Juristen selbstverständlich. Und natürlich weiß das auch die Stader Staatsanwaltschaft.
Wieso kam der Tatverdächtige auf freien Fuß?
Auf einen juristischen Laien muss die Freilassung eines zu drei Jahren Haft verurteilten Täters wie ein katastrophaler Fehler wirken. Zumal der junge Mann die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt und damit die Gefahr besteht, er könnte sich ins Ausland absetzen. Juristische Laien könnten sich in ihrem Rechtsempfinden durch die Freilassung stark gestört fühlen.
Auch die Anklagebehörde erhebt jetzt schwere Vorwürfe gegen das Landgericht. Man habe einen „Intensivtäter“ freigelassen, der obendrein drogenabhängig sei. Es sei „zynisch“, bei dem Mann weder Wiederholungs- noch Fluchtgefahr anzunehmen, kritisiert die Staatsanwaltschaft. Und: Wäre der Straftäter nicht freigekommen, hätte es einen Raubüberfall „vermutlich nicht oder nicht mit diesen Folgen gegeben“. Da schwingt die Behauptung mit: Wir hatten es bereits geahnt.
Warum aber ist die Staatsanwaltschaft dann nicht oder jedenfalls nicht energischer gegen eine Aufhebung des Haftbefehls bei dem Verdächtigen vorgegangen? Warum hat man sich nicht an eine höhere Instanz gewandt, um möglichen Schaden abzuwenden?
Wenn der freigelassene Straftäter tatsächlich für das schwere Verbrechen an dem HSV-Investor und letztlich sogar für dessen Tod verantwortlich ist – bislang ist er lediglich dringend verdächtig, aber nicht überführt – hätte sich seine Freilassung tatsächlich als Fehleinschätzung entpuppt.
Aber vorwerfbar oder sogar ein Skandal ist die Entscheidung nicht. Keiner konnte mit Bestimmtheit vorhersagen, wie der Verdächtige sich in Freiheit benehmen würde. Solange wir nicht sichere Feststellungen darüber abgeben können, wie Menschen sich in Zukunft verhalten, sind wir auf Einschätzungen und Prognosen angewiesen. Selbst vor Gericht finden noch einige Lernprozesse statt. Und Freiheit ist ein sehr hohes Gut. Dieses zu schützen erwarten wir ebenso von der Justiz, wie wir hoffen, dass mit zutreffenden Gerichtsurteilen gegen Straftäter unsere Sicherheit gewährleistet wird.