2015 haben Illusionen und Vorurteile die Flüchtlingspolitik regiert. Nun muss Pragmatismus einziehen – auch eine Grenzschließung darf kein Tabu sein.

Die Zeit zwischen den Jahren birgt viele Chancen – man kann in Ruhe auf die zurückliegenden Monate zurückblicken, Fehler erkennen und Konsequenzen ziehen. Und darauf aufbauend das neue Jahr planen. Nicht anders ist es in der Flüchtlingspolitik. Auch hier sollte die Atempause genutzt werden, um die Emotionen herunter- und die Vernunft hochzufahren.

Leider machen die vergangenen Tage wenig Hoffnung. Schönfärberei und ein irrationaler Überschwang hier, plumpe Fremdenfeindlichkeit dort. Wirtschaftsexperten verheißen wegen der Zuwanderung ein „zweites deutsches Wirtschaftswunder“, der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) erwartet, der Zustrom nach Deutschland werde 2016 „deutlich“ zurückgehen. „Wenn wir jetzt täglich 3000 Flüchtlinge haben, dann ist das viel besser als vorher 10.000 oder 15.000“. Eine atemberaubende Rechnung – 3000 wären fürs Jahr hochgerechnet noch immer mehr als eine Million Menschen. Zugleich agieren die Rechtspopulisten immer dreister – die Pegida-Demonstranten tragen Galgen, der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke schwadroniert über den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“. Himmel hilf.

Das Wort „Krisis“ – und das benutzen inzwischen selbst die Optimisten im Zusammenhang mit der Massenzuwanderung – hat im Griechischen eine doppelte Bedeutung: Es beschreibt eine gefährliche Situation, aber eben auch einen „Wendepunkt“. An diesem Wendepunkt steht das Land. Das Jahr 2015 hat die Deutschen aus ihrer Selbstverliebtheit und Ichbezogenheit herausgezerrt und ein Fenster zur Welt aufgestoßen. Wolfgang Schäuble hat es als „Rendezvous unserer Gesellschaft mit der Globalisierung“ bezeichnet.

Tatsächlich könnte das Jahr für das Bewusstsein stehen, dass unser Handeln wie Nichthandeln Konsequenzen hat. Die unterlassene Hilfeleistung etwa in den Lagern in Jordanien, der Türkei oder im Libanon hat die Flüchtlingswelle verschärft – denn das Welternährungsprogramm hat die Versorgung der Flüchtlinge aus Geldmangel teilweise einstellen müssen. Was blieb den Menschen übrig? In Zeiten der Vollversorgung der Menschen mit Handys schnurrt die Welt zusammen, die Völker werden mobil.

Bei aller berechtigten Kritik am „Wir-schaffen-das“ der Kanzlerin – es hat sich ein anderes Deutschland offenbart als bei der Massenmigration ein Vierteljahrhundert zuvor. Als infolge des Bosnien-Krieges 1992 fast 440.000 Flüchtlinge ins Land strebten, löste dies eine „Staatskrise“ (Helmut Kohl) aus. Das Asylrecht wurde zurückgestutzt. In Rostock-Lichtenhagen tobten pogromartige Ausschreitungen gegen Ausländer, bei Mordanschlägen in Mölln und Solingen kamen mehrere Einwanderer ums Leben. Auch heute wütet ein Mob in den „sozialen Netzwerken“, Verwirrte verüben Brandanschläge, aber die Mehrheit der Deutschen tickt anders. Das Engagement vieler – angefangen bei Kleiderspenden bis hin zum ehrenamtlichen Sprachunterricht – legt davon Zeugnis ab.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Erkenntnis ist langsam gereift, aber nun in den meisten Köpfen angekommen. Angesichts des eklatanten Geburtenmangels wird unser Lebensstandard ohne Migranten nicht zu halten sein. Die Aufnahme von Zuwanderern ist nicht nur christliche Nächstenliebe, sondern liegt im ureigenen Interesse. Wer die Notwendigkeit von Einwanderung leugnet, hat keinen Verstand. Wer aber offene Grenzen predigt, ist vermutlich auch nicht ganz dicht. Denn Integration und Steuerung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Sie bedingen einander.

Hier muss das Land dringend aus seinen Fehlern lernen. Wanderungsbewegungen von Menschen werden stets von zwei Seiten beeinflusst, die Wissenschaftler „Push- und Pull-Faktoren“ nennen. Vertrieben (push) werden die Flüchtlinge nicht nur von Krieg und Verfolgung, sondern auch von Armut und Perspektivlosigkeit – oder Hunger in den Lagern. Angezogen werden sie einerseits von der guten Konjunktur hierzulande, andererseits durch die Willkommenskultur. Jedes freundliche Selfie der Kanzlerin mit einem Flüchtling, jeder Beifallssturm für ankommende Menschen wie Anfang September in München, jede Sozialleistung wirkt wie ein Magnet.

Wer will es den Menschen verdenken, dass sie sich auf den Weg machen in eine bessere Zukunft? Aber wer kann es einem Staat vorwerfen, wenn er angesichts des Massenzuzugs die Grenzen sichert? Fast 1,1 Millionen Menschen kamen im zu Ende gehenden Jahr allein in Deutschland an. Zuwanderung ist ein dynamischer Prozess, der sich selbst verstärken kann. In der maroden arabischen Welt, das zeigte jüngst eine Umfrage, möchten 23 Prozent der Menschen ihre Heimat verlassen. Bei 337 Millionen Arabern wären das knapp 78 Millionen. Natürlich wird nur ein Bruchteil zu uns kommen. Aber auch dieser Bruchteil könnte zu viel sein.

Das Migrations-Musterland Schweden schließt am Montag seine Grenzen. 190.000 Flüchtlinge kamen 2015 dort an – bei rund 9,6 Millionen Einwohnern. Schweden und Deutschland sind die bevorzugten Zielländer. 2014 kam jeder dritte Asylbewerber in Europa nach Deutschland, 2015 dürften es zwei von drei sein. Andere Staaten machen sich einen schlanken Fuß: In Dänemark etwa hat sich die Zahl der Flüchtlinge kaum erhöht – das Land schleust die Menschen lieber weiter zu den Nachbarn.

Dänemark ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Restriktiv verhalten sich alle europäischen Staaten, einige versehen ihre harte Politik noch mit fremdenfeindlichen Sprüchen. In Europa regiert nicht das Prinzip der Solidarität, sondern das der Abschreckung. Die EU scheitert schon an der Verteilung von 160.000 Flüchtlingen – dabei kamen 2015 zehnmal so viele.

Deutschland hingegen bleibt seiner Willkommenskultur treu – noch. Die ist für die Innenwirkung, die Inte­gration extrem wertvoll, in der Außenwirkung aber nicht ungefährlich, weil sie als Pull-Faktor wirkt. So trägt die Willkommenskultur das Risiko ihres Scheiterns schon in sich. Nur wer den Zuzug begrenzt, wird die Willkommenkultur erhalten können. Die Große Koalition hat erste Schritte unternommen, um die Zuwanderung zu drosseln. Es fehlt aber ein klares Signal, wie es die Schweden ausgesendet haben: Wir schaffen es nicht mehr.

Hört man sich in den Kommunen um, fragt Bürger oder Experten, sagen die meisten: Auch Deutschland benötigt rasch eine Pause. Das ist nicht fremdenfeindlich, sondern das Gegenteil, ja die Voraussetzung für eine gelingende Integration. Die Behörden können den Stau der Asylanträge nur abbauen, wenn weniger Anträge eingehen, als alte abgearbeitet werden. Eine Beschleunigung ist unbedingt nötig – was bleibt von der Willkommenskultur, wenn Flüchtlinge über Monate in Zelten warten müssen? Sie träumten von einem sicheren Leben im Wohlstand und schlagen nun in Baumärkten ihre Zeit tot. Je länger Menschen in der prekären Lage zwischen Anerkennung oder gar Abschiebung pendeln, desto schwerer richten sie sich in dem fremden Land ein, lernen Deutsch oder finden einen Job.

Auch die Politik muss rasch aus dem Notfallmodus herausfinden: Zweckentfremdete Turnhallen, Flüchtlingsheime in Naturschutzgebieten oder Zeltlager auf Festwiesen als Dauerlösung untergraben die Akzeptanz in der Bevölkerung. Sie schüren Vorurteile und Ängste. Der Unwille wächst, das zeigen nicht nur die vielen Klagen gegen Erstaufnahmeeinrichtungen. Und die kommen nicht von Nazis, sondern aus der Mitte der Gesellschaft.

Integrationsmaßnahmen, Sprachkurse, Qualifikationen für den Arbeitsmarkt, dass alles ist schon bei Zehntausenden Flüchtlingen eine Herausforderung. Bei einer Million wird sie zur Herkulesaufgabe. Weder gibt es Wohnungen noch Jobs noch Lehrer in ausreichender Zahl. Auch wenn im Fernsehen regelmäßig syrische Ärzte auftreten, die Realität sieht anders aus. 70 Prozent der Bürgerkriegsflüchtlinge bringen keine Berufsausbildung mit. Nach Daten der Bundesagentur finden im ersten Jahr nur acht Prozent der Flüchtlinge einen Job. Nach fünf Jahren sind es 50 Prozent, erst nach 15 Jahren erreichen sie die Beschäftigungsquote aller Ausländer.

Die Integration wird ein Marathon. Und teuer: Forscher kalkulieren mit Kosten von rund 30 Milliarden Euro pro Jahr. Die Staatsquote wird in die Höhe schnellen, weil mehr Behördenmitarbeiter, Sozialpädagogen, Polizisten, Lehrer, Psychologen benötigt werden. Der Philologenverband hätte gern 20.000 neue Pädagogen, der Beamtenbund gleich 180.000 neue Kollegen im öffentlichen Dienst. Da wird eine gewaltige Jobmaschine angeworfen – aber gelingt die Integration, wird das Land profitieren.

In der Vergangenheit hat es Deutschland vergleichsweise gut vermocht, Zuwanderer zu integrieren. Anders als in Schweden haben viele einen Job gefunden, anders als in Frankreich gibt es kaum Gettos wie in den Banlieues. Eine ungezügelte Zuwanderung aber gefährdet diese Erfolge von gestern. Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman prägte den Satz, dass man entweder einen Wohlfahrtsstaat oder offene Grenzen haben könne, beides zusammen aber niemals funktionieren werde. Der Arbeiter aus Italien, der Paketbote aus Polen, der Gerüstbauer aus Griechenland spüren das. Sie sind die ersten, die die neue Konkurrenz fürchten müssen, die um Jobs, Wohnung oder den Bildungserfolg ihrer Kinder bangen.

Ihre Sorgen muss die Politik ernst nehmen, nicht nur die allgegenwärtigen Befindlichkeiten von Flüchtlingsbeauftragten, Sozialarbeitern und Publizisten. Hier haben SPD und CDU versagt. Die SPD kann kaum anders, Angela Merkel will es offenbar nicht. Die Kanzlerin hat sich mit dem Mantra des „Wir schaffen das“ festgelegt und weicht bislang nur Millimeter davon ab. Damit hat sie die Mitte weit nach links verschoben und Politiker wie Oskar Lafontaine längst überholt.

Weite Teile der Union verstehen die Kanzlerin zwar nicht mehr, nicken ihre Politik aber eilfertig ab, solange die Umfragen stimmen. Die Grünen sind ganz hin-, die Sozialdemokraten eher hin- und hergerissen. Sie trauen sich als Partei der Solidarität nicht, sich gegen die Kanzlerin zu positionieren. Die FDP wird als mahnende Stimme kaum wahrgenommen. So bekommt jede Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik, so fundiert sie auch klingt, den Hautgout der AfD. Weil die meisten sich aus guten Gründen nicht in deren Nähe begeben wollen, schweigen sie. Für das Funktionieren der Demokratie wird das zur schweren Hypothek. Bundespräsident Joachim Gauck fordert „eine offene, lebhafte und demokratische Debatte“. Führen wir sie!

Natürlich lässt sich die Flüchtlingskrise nicht per Fingerschnippen lösen. Das ist wahr. Wahr ist aber auch, dass sich mit jedem Zuwarten die Probleme verschärfen, die Herausforderungen wachsen, sich die Migration über (Familien-)Nachzüge ausweitet. Jede Fluchtgeschichte kann Bekannte und Verwandte ins vermeintlich gelobte Land locken. „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich“, hat Gauck betont. Es ist der Ruf nach Hilfe. Entweder Europa gibt sich einen Ruck und besinnt sich auf seine Werte – oder Deutschland wird den Nachbarn notgedrungen folgen müssen. Grenzkontrollen, die konsequente Anwendung europäischen Asylrechts und im Notfall auch das Abweisen von Flüchtlingen an den Grenzen sind die letzte Möglichkeit. Denkverbote bringen niemanden weiter.

Um den gefährlichen Rückstau und Dominoeffekt auf dem Balkan zu verhindern, müsste die Kehrtwende noch vor dem Frühjahr erfolgen, wenn sich erneut Zehntausende auf den Weg machen. Niemand will das Land zusperren. Ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild, das Zielgrößen festlegt und legale Migration ermöglicht, hilft Verwerfungen zu lindern, eine Ausweitung der Entwicklungshilfe, die Einrichtung von großzügig ausgestatteten Schutzzonen im Nahen Osten ebenso.

Grenzeinsätze sind Grenzgänge für eine offene Gesellschaft produzieren hässliche, schwer erträgliche Bilder, harte Entscheidungen werden nötig, ein gewaltiger Shitstorm wird sich entladen. Aber rechtfertigt die Angst davor das „Weiter so“? So unerträglich das Agieren der europäischen Partner anmutet, Deutschland ist keine Insel. Der deutsche Sonderweg ist moralisch aller Ehren wert, aber klug ist er nicht, weil er das Land isoliert. Eine europäische Einigung wäre die beste und wünschenswerte Option. Aber was, wenn diese Lastenteilung ausbleibt? Wenn wieder täglich 10.000 Menschen ins Land strömen?

Die Rückgewinnung der Kontrolle über die Landesgrenzen wäre dann alternativlos, um in der Merkelschen Rhetorik zu bleiben. Schon bald könnte die Frage nicht mehr lauten, ob Deutschland dem schwedischen Beispiel folgt, sondern nur noch, wann es nachzieht. Und ob Angela Merkel die Grenzen schließt – oder schon ihr Nachfolger.