Anscheinend misshandeln immer mehr Eltern ihre Kinder. Aber Zahlen können trügen.

Es ist rund ein Jahr her, da klingelte die Polizei bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern aus unserem Bekanntenkreis. Man habe eine Meldung auf mögliche Kindeswohlgefährdung aus der Nachbarschaft bekommen, sagten die Beamten und baten um Einlass. Die Eltern waren völlig konsterniert und die (eigens geschulten) Polizisten nach einem Rundgang sicher, dass es sich um falschen Alarm gehandelt hatte.

Natürlich fragten sich die Eltern, wer in aller Welt sie warum angezeigt hatte – schließlich spielten ihre kleinen Kinder stets fröhlich unter den Augen aller Nachbarn im Garten. Und derjenige, der die Meldung gemacht hatte, fühlte sich, als er über das Ergebnis informiert wurde, sicher unwohl, aber wahrscheinlich doch auch im Recht – hatte er doch ein furchtbares Schreien der Kinder gehört und geglaubt, diese hätten unter Gewalt gelitten. Wie könnte man da schweigen, nach all dem, was in dieser Stadt geschehen ist? In Wahrheit hatten die Kinder wohl darunter gelitten, am Abend ins Bett gehen zu sollen – und deswegen ein großes Gezeter bei offenen Fenstern veranstaltet. So wie es regelmäßig in den besten Familien vorkommt.

Wenn die Behörden richtig zählen, dürfte diese Episode in der Statistik zu einem der 12.112 Fälle von Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gehören, die im vergangenen Jahr in Hamburg regis­triert wurden. Dass diese Zahl binnen eines Jahres um mehr als 40 Prozent dramatisch angestiegen ist, sagt einiges über unsere Gesellschaft. Zum einen sind wir nach dem Tod mehrerer Kinder in problembeladenen Familien stärker sensibilisiert für das Thema. Was gut ist. Zum anderen stehen Eltern viel schneller unter dem (üblen und zumeist falschen) Verdacht, ihre Kinder zu misshandeln. Was nicht gut ist.

Natürlich kann man sagen: Lieber einmal zu viel kontrollieren als einmal zu wenig. Es ist richtig, sensibler mit dem Thema Gewalt in Familien umzugehen, als es über Jahrzehnte des Wegschauens üblich war. Sozialarbeiter, Ärzte, Lehrer oder Nachbarn – alle sollten genau hinsehen, wenn es einem Kind offensichtlich schlecht geht. Denn die Zahlen zeigen nicht nur, dass wir sensibler geworden sind. Sie deuten auch darauf hin, dass die Kindeswohlgefährdungen zunehmen.

Bei all dem bleibt der Umgang mit dem Thema immer auch eine Gratwanderung. Denn so wichtig Wachsamkeit ist, so schädlich sind Hysterie und eine Kultur des voreiligen Verdachts.

Einen Anteil an der dramatischen Steigerung der Verdachtsfälle dürfte die Anweisung an die Jugendämter haben, heute das geringste Indiz für Kindeswohlgefährdungen zu melden und dem nachzugehen. Auch das ist gut. Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass die verstorbenen Mädchen Yagmur, Chantal und Lara Mia den Behörden allesamt lange bekannt waren. Sie starben quasi unter den Augen der staatlichen Betreuer. Es fehlte also nicht an Verdachtsmeldungen. Es fehlte schlicht an der richtigen Einschätzung durch die Mitarbeiter der Ämter, die in den Familien ein und aus gingen.

Um klug und kompetent entscheiden zu können, brauchen die Jugendamtsmitarbeiter genügend Zeit im Umgang mit den betreuten Familien. Es ist schwer vorstellbar, dass das bei bis zu 72 Fällen immer möglich ist, für die jeder Mitarbeiter in Hamburg verantwortlich ist. Wirklich bedenklich aber ist es, dass Sozialbehörde und Bezirke bis heute nicht sagen können, wie sich die Belastung der Mitarbeiter entwickelt – und wo es durch große Belastungen neuen Personalbedarf gibt. Massenhaft Verdachtsmeldungen zu registrieren mag ja sinnvoll sein. Es hilft den wirklich gefährdeten Kindern am Ende aber nur, wenn die Jugendämter gleichzeitig in die Lage versetzt werden, professionell zu arbeiten.

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