Noch 90 Minuten, dann könnte das Kapitel Bundesliga für den HSV nach 52 Jahren enden
„Noch nicht einmal absteigen können sie“, lautete eine böse, aber passende Schlagzeile, als der HSV im Mai 2014 mit einem 0:0 und 1:1 gegen Fürth und zuvor fünf Niederlagen in der Fußball-Bundesliga auf wundersame Weise doch noch den Klassenerhalt geschafft hatte. Danach sollte alles anders und besser werden: neue Struktur, neue Führung, neue Spieler. Geblieben ist die Existenzangst. In Stuttgart trugen Spieler und Betreuer vor dem Spiel Shirts mit der Aufschrift: „Wir schaffen das!“ Was sie damit genau meinten? Der blamable Auftritt deutete eher darauf hin, dass die HSV-Profis vollenden wollen, was ihnen 2014 „missglückte“.
Noch nie stand der HSV vor dem letzten Spieltag auf einem direkten Abstiegsplatz, für eine Rettung ist der Verein auf die Ergebnisse anderer angewiesen. Mehr muss man nicht wissen, um die dramatische Lage zu erkennen. Die Gefahr, dass Maskottchen Dino Hermann am Sonnabend beim Heimspiel gegen Schalke seinen letzten Arbeitstag hat und die Bundesliga-Uhr stehen bleibt, ist so groß wie nie.
Viele Hamburger flüchten sich angesichts des schleichenden Zerfalls seit Wochen in eine Standardaussage: Der HSV hat den Abstieg aber auch wirklich verdient. Und ja, es stimmt: Der HSV hat sich in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Fehlern geleistet, und zwar fast in allen Bereichen. Ausgerechnet der Vorstandsvorsitzende Dietmar Beiersdorfer, der als eine Art Heilsbringer seinen Dienst nach der Umsetzung der Initiative HSVPlus antrat, bewies keine glückliche Hand. Er ließ Mirko Slomka die längste Vorbereitung aller Zeiten durchführen, um ihn dann nach drei Spielen zu feuern und mit Joe Zinnbauer einen „Bis-auf-Weiteres-Trainer“ zu installieren.
In seinem Bemühen um Thomas Tuchel setzte er auf die Interimslösung Peter Knäbel. Eine fatale Fehleinschätzung, die er mit der Einstellung von Bruno Labbadia korrigierte. Schon jetzt ist außerdem festzustellen, dass es der sportlichen Führung nicht gelungen ist, die (erkannten) Defizite der Mannschaft zu eliminieren, die Bilanz der Neuzugänge ist erschütternd.
Die Hauptschuldigen für die zweite grausame Serie in Folge bleiben aber, das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, die Spieler. Seit viel zu langer Zeit tummeln sich in Hamburg etliche Schönspieler und Wegducker, wenn es eng wird. Sollte die Vereinsführung inzwischen nicht begriffen haben, dass nur eine radikale Erneuerung Hoffnung auf Besserung bringt, wäre ihr nicht mehr zu helfen.
Die Tabelle lügt nicht, so lautet eine beliebte Fußballerphrase, deshalb steht der HSV auch verdient auf dem 17. Platz. Gelänge es aber ein letztes Mal, nach einem Rückschlag wieder aufzustehen, wäre dies zwar kein Grund, plötzlich alles schönzureden, aber auch anerkennenswert und ein verdienter Klassenerhalt. Sich jetzt vorschnell abzuwenden und abzugrenzen, wäre deshalb der falsche Weg. Die Stuttgarter haben es eindrucksvoll vorgemacht mit ihrem bedingungslosen Rückhalt. Nicht nur der HSV, auch seine Fans sind aufgerufen, noch einmal alles für die Rettung zu geben – und den Spielern jegliche Alibis zu nehmen.
Um mit einem weiteren Irrtum aufzuräumen: Der Verlust des Alleinstellungsmerkmals „Immer Erste Liga“ wäre bitter. Klar. Dass ein Zweitligist unschön für eine Olympia-Bewerberstadt wäre – sei’s drum. Entscheidend aber: Wer glaubt, die Zweite Liga könnte für den HSV ein Chance sein, ist ein Träumer. Die finanzielle Lage würde sich dramatisch verschlechtern, die Abhängigkeit von Investoren womöglich noch vergrößern. Angesichts der Konkurrenz – siehe Brauseclub Leipzig – scheint die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich der Verbleib nicht nur auf eine Saison beschränken würde.