Die SPD kann aus dem Sieg von Olaf Scholz lernen. Die Union muss es sogar
Es gehört zu den Ritualen der Republik, dass Bundespolitiker am Tag nach Landtagswahlen das Ergebnis so lange deuten und dehnen, bis auch die katastrophalste Klatsche schöngeredet wird. Ähnliches war gestern in Berlin zu besichtigen. Die Niederlage des Dietrich Wersich bucht die CDU als Hamburger Sonderfall ab, mit Scholz’ Sieg sieht die SPD sich im Aufwind.
Dabei bestätigt die Hamburger Wahl zunächst nur den langfristigen Trend. Die Deutschen wählen weniger Parteien als vielmehr Spitzenkandidaten. Traditionelle Milieus verlieren an Bedeutung, die Bindungskräfte der sogenannten Volksparteien schwinden. In der Medienrepublik entscheiden die Protagonisten der Parteien, nicht ihre Programmatik. Der Amtsträgerbonus ist dramatisch gewachsen, gerade in einem Stadtstaat. Bürgermeister zu werden ist um ein Vielfaches schwieriger als Bürgermeister zu bleiben. Die Ausnahmen bestätigen eher diese Regel: Christoph Ahlhaus war 2011 nur kurz im Amt, als er gegen Scholz verlor.
Ortwin Runde hatte 2001 seinen Herausforderer Ole von Beust um zehn Prozentpunkte deklassiert, verlor sein Amt aber wegen des Populisten Ronald Schill. Gegen den so beliebten wie souveränen Bürgermeister Olaf Scholz hatte Dietrich Wersich, der unter Wert geschlagen wurde, eigentlich nie eine Chance.
Mehr Trost aber lässt sich für die Union aus dem Hamburger Wahlergebnis kaum herauslesen. 15,9 Prozent sind ein Desaster. Schlimmer noch für die Union: Auf dem rechten Flügel beginnt sich die Alternative für Deutschland zu etablieren, auf dem wirtschaftsliberalen Flügel scheint die FDP dem Teufel von der Schippe zu springen. Zusammen sind beide Parteien in Hamburg fast so stark geworden wie die Union. Dieses Szenario ist auf Bundesebene in weiter Ferne, aber es weist die Richtung.
Besonders gefährlich wird es, wenn die SPD aus dem Hamburger Ergebnis Lehren zieht. Es gab in der Fülle der Schautafeln der Demoskopen eine Botschaft, die im Willy-Brandt-Haus hellhörig machen muss: Olaf Scholz’ Rekordergebnis fußt auf seiner besonderen Wirtschaftskompetenz. 47 Prozent der Wähler sahen diese beim SPD-Bürgermeister – der beste jemals ermittelte Wert für einen Sozialdemokraten. Interessant ist auch der Blick auf die historischen Zweit- und Drittplatzierten: 1998 kam Gerhard Schröder bei der Landtagswahl in Niedersachsen und zwei Jahre später Wolfgang Clement in Nordrhein-Westfalen auf 46 Prozent Wirtschaftskompetenz. Der Erste wurde Bundeskanzler, Letzterer Superminister in der Bundesregierung. „It’s the economy, stupid“, „Auf die Wirtschaft kommt es an, Dummkopf!“, war der Wahlspruch, der 1992 Bill Clinton ins Weiße Haus trug. Ein knappes Vierteljahrhundert hat sich daran wenig verändert.
Es ist das Drama der SPD, dass sie diese einfache Botschaft offenbar vergessen hat – Olaf Scholz ausgenommen. Stattdessen konzentriert sich die Partei darauf, das eigene historische Reform-Erbe zu schreddern und die Agenda 2010 rückgängig zu machen. Oder sich wie in Thüringen in eine aussichtslose Koalition zu flüchten, in der die einstmals stolze Sozialdemokratie ausgerechnet in ihrem Stammland einen Linken zum Ministerpräsidenten wählt. Selbst die ausgabefreudige Sozialpolitik nützt am Ende kaum der SPD und ihren Ministern, sondern nur Angela Merkel.
Solange sie für die Union in den Bundestagswahlkampf zieht, wird die SPD aussichtslos bleiben. Aber die ganz große Depression muss Sozialdemokraten nicht befallen. Auch hier kann Hamburg Lehre sein: Als Ole von Beust die Hansestadt regierte, durchlief die SPD in Umfragen ein Tal der Tränen – noch 2010 dümpelte die Partei bei 31 Prozent. Ein Jahr später triumphierte Scholz mit 48,4 Prozent. Die CDU hingegen halbierte ihre Zustimmungswerte binnen zwei Jahren.
Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts