Statt eine rot-grüne Vernunftehe sollte Olaf Scholz ein Wagnis eingehen und auf wechselnde Partner setzen. Der Demokratie würde das gut tun
Solide, stabil, klar: So haben es die Deutschen am liebsten, wenn es um Politik geht. Solides Regieren, stabile Mehrheiten und klare Verhältnisse. Und so wird es in Hamburg ja wahrscheinlich auch kommen, schließlich hat die SPD sogar drei potenzielle Koalitionspartner. Die Debatte nach der Wahl konzentriert sich auf die anstehenden Koalitionsverhandlungen der SPD mit den Grünen und auf die Frage, ob es doch noch zum sozialliberalen Bündnis oder gar einem SPD-CDU-Senat kommt, falls der Preis der Grünen zu hoch sein sollte. Nur über die beste Variante spricht niemand: eine SPD-Minderheitsregierung.
Was in den nun wahrlich nicht chaotisch regierten Ländern Skandinaviens seit Jahrzehnten eher Regel denn Ausnahme ist, gilt in Deutschland als Schreckgespenst. Vielleicht ist das immer noch eine späte Nachwirkung der Weimarer Republik. Berechtigt sind die Sorgen – nämlich Instabilität und Unklarheit – indes keineswegs.
Die politische Situation in Hamburg nach der Wahl ist sogar ideal. Es gibt einen klaren Regierungsauftrag für Olaf Scholz und die SPD, die rein rechnerisch mit jeder anderen Fraktion eine deutliche Mehrheit im Parlament hätte. Instabil wäre eine Minderheitsregierung ja dann, wenn tiefe ideologische Gräben die Regierungspartei von der Opposition trennen würden. Genau das ist in Hamburg aber keineswegs der Fall: Grüne, FDP und CDU sind potenzielle Koalitionspartner, und auch mit den Linken und sogar der AfD gibt es zumindest in einzelnen Punkten inhaltliche Überschneidungen. Und da es die Rekordzahl von sechs Fraktionen in der Bürgerschaft gibt, stehen dem Senat eben auch fünf potenzielle Wege offen, Mehrheiten zu finden. Es braucht nur drei Stimmen aus dem Oppositionslager, damit die SPD jede Abstimmung gewinnen kann.
In der Bürgerschaft gäbe es mehr echte Debatten, weniger Scheindebatten
Der große Charme dieser Lösung ist aber ein ganz anderer: In die Bürgerschaft würde endlich wieder mehr parlamentarischer Geist einziehen. Denn was ist die eigentliche Grundidee der parlamentarischen Demokratie? Dass die Bürger fähige Frauen und Männer entsenden, denen sie zutrauen, die besten Lösungen für Probleme zu finden. Der Weg besteht idealerweise in – gerne auch leidenschaftlichen – Debatten, in denen unentschlossene Abgeordnete sich von den besten Argumenten überzeugen lassen. In der leider oft traurigen Praxis werden dagegen oft nur noch Scheindebatten geführt. Über gute Ideen wird meist nicht mal nachgedacht, solange sie aus einer anderen Fraktion kommen; das politische Ritual fordert Abgrenzung von der Opposition, ganz gleich, worum es geht, denn die Regierung darf ja keinesfalls unterstützt werden. Umgekehrt ist es natürlich genauso. Das Ergebnis ist eine in Routine und Langeweile langsam erstickende Bürgerschaft – entsprechend gering ist das Interesse der meisten Hamburger an der parlamentarischen Arbeit. Auch die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung zeugt davon.
Nun wird eine Minderheitsregierung natürlich noch keinen parlamentarischen Idealzustand herstellen. Belebend wäre sie aber allemal. Weil eine Entscheidung eben nicht in der Fraktion oder einer Koalitionsrunde gefällt werden kann, sondern weil die SPD sich jeweils eine Mehrheit suchen müsste.
Selten waren die Voraussetzungen für eine Minderheitsregierung so günstig
In der Praxis dürfte das nicht wirklich problematisch sein. Die SPD will in den Hafen investieren? Die CDU auch. Die SPD will eine Mietpreisbremse? Grüne und Linke auch. Die SPD will ein Förderprogramm für Existenzgründer auflegen? Die FDP auch. Und die höchste und wichtigste Hürde – die Verabschiedung des Haushalts – ist ebenfalls überwindbar. Dazu bedarf es natürlich einiger Kompromisse. Doch das ist in einer Koalition ja nicht anders. Es würde eben nicht eine klare rote (wie bisher) oder rot-grüne Politik geben – das Ergebnis wäre mal etwas liberaler, mal etwas konservativer, mal etwas grüner und mal etwas dunkelroter. Was soll daran schlecht für die Stadt sein?
Es ist auch kein politisches Drama, wenn die Regierungspartei mal eine Abstimmung verliert. Im deutschen Polit-Ritual ist so etwas immer gleichbedeutend mit Regierungskrise. Dabei bedeutet das doch lediglich, dass es in einer Sachfrage für einen bestimmten Vorschlag keine Mehrheit gab. Also muss eben ein anderer Vorschlag her.
Es gibt Zeiten, in denen Berechenbarkeit und eindeutige Mehrheitsverhältnisse ein wichtiger Wert sind. Das gilt vor allem für Krisen. Doch davon ist Hamburg weit entfernt. Und so ergibt sich eine Chance, arg verkrustete Strukturen ein wenig aufzubrechen. Selten waren die Vorzeichen so günstig. Zu einer rot-grünen Vernunftehe gibt es eine Alternative mit deutlich weniger Sicherheit – aber deutlich mehr Sex-Appeal. Also, lieber Olaf Scholz: Überraschen Sie uns doch mal.
Sven Kummereincke ist stellvertretender Leiter der Lokalredaktion.