Die Bürger lieben die Stadt, doch wer sie regiert, ist vielen gleichgültig
Viel ist in diesen Tagen vor der Hamburger Bürgerschaftswahl von Prozenten die Rede. Es geht vor allem um die Frage, ob Olaf Scholz mit seiner SPD weiter allein regieren oder ob der Bürgermeister eine Koalition (mit den Grünen?) eingehen muss. Laut der aktuellsten Umfrage im Auftrag des NDR kommt Scholz auf 44 Prozent. Das klingt eindrucksvoll, wird aber von einem anderen Wert geschlagen: Der liegt bei 57,3 Prozent und könnte am 15. Februar noch einmal unterboten werden – was eine Katastrophe für Hamburgs Demokratie und für die Legitimation des Senats wäre.
57,3 Prozent, das war die Beteiligung bei der Bürgerschaftswahl vor vier Jahren, ein verheerender Wert. Denn er bedeutete, dass fast 43 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen überhaupt nicht abgegeben haben. Das war, trotz des damals vollzogenen Machtwechsels von Schwarz-Grün zu pur Rot, ein Negativrekord. Man mag sich kaum vorstellen, dass dieser Trend sich fortsetzt, weil es dann bald genauso viele Hamburgerinnen und Hamburger geben würde, die zur Wahl gehen, wie solche, die genau das nicht tun.
Entsprechende Befürchtungen sind leider nicht unberechtigt, weil die Stadt erstens vor einer Wahl steht, die wenig Spannung verspricht, weil zweitens das Wahlrecht zu kompliziert ist und weil drittens die Werbekampagne für eine höhere Beteiligung misslang. Das alles wird, wenn überhaupt, eher kleineren Parteien nutzen, insbesondere der Alternative für Deutschland, der es offensichtlich gelingt, Protestwähler zu mobilisieren. Die großen Parteien werden es dabei schwieriger haben, weil gerade bei den Anhängern von SPD und CDU der Eindruck entstehen könnte, dass alles entschieden ist und Olaf Scholz zu 99,9 Prozent Bürgermeister bleibt.
Die Wahrheit ist natürlich eine andere, weil es einen großen Unterschied machen wird, ob Scholz allein oder mit den Grünen oder mit einem anderen Partner regiert. Und weil es nicht unerheblich ist, ob die AfD zum ersten Mal den Einzug in ein westdeutsches Parlament schafft und ob die FDP in Hamburg wieder aufersteht. So oder so oder so kann die Bürgerschaftswahl historische Ergebnisse hervorbringen, und allein das sollte Reiz genug sein, die eigenen zehn Stimmen nicht verfallen zu lassen. Ist es aber leider nicht, was uns zu der Kernfrage dieses Problems führt: Warum sagen so viele Hamburger einerseits, dass sie in keiner Stadt so gern leben wie in dieser, während andererseits einer immer größer werdenden Gruppe gleichgültig ist, von wem „die schönste Stadt der Welt“ regiert wird? Die beiden Erkenntnisse passen auf den ersten Blick nicht zusammen, sie offenbaren aber ein Hamburger Dilemma: Die hohe Lebensqualität in und der Zustand der Stadt werden als selbstverständlich hingenommen, sie sind der Hauptgrund, warum so viele Menschen hierherkommen. Die Zufriedenheit mit dem eigenen Umfeld ist dabei anscheinend so groß, dass sie überhaupt keinen oder nur geringen Bedarf an Veränderungen haben. Verkürzt könnte man sagen: Etliche Hamburger genießen die (ja wirklich) schöne Stadt – und schweigen. Soll heißen: wählen nicht.
Vielleicht ist diese allgemeine Zufriedenheit überhaupt der Grund für die in Deutschland ja überall zurückgehende Wahlbeteiligung. Es geht uns, gerade im Norden, so gut, dass wir eines der Kernrechte unserer Gesellschaft nicht mehr zu schätzen wissen, ja, dass wir fahrlässig damit umgehen. Denn eins sollte auch jeder wissen: Demokratie ist nix für Zuschauer, Demokratie ist etwas zum Mitmachen, wenigstens in der eigenen Stadt und wenigstens alle vier Jahre.
Wem selbst das zu viel ist: Machen Sie bitte am 15. Februar mit. Danach haben Sie vor Bürgerschaftswahlen nämlich fünf Jahre Ruhe – die nächste Legislaturperiode ist um zwölf Monate verlängert worden.