Im Stadtteil Neuwiedenthal gingen 2011 teilweise nur 15 Prozent ins Wahllokal. Eine echte Erklärung haben die Politiker dafür auch nicht
Neuwiedenthal. Wenn die Hamburger am 15. Februar eine neue Bürgerschaft wählen, werden sie vermutlich für nicht allzu große politische Überraschungen sorgen. Dafür dürften diejenigen, die nicht an der Wahl teilnehmen, der Politik mal wieder ein Rätsel aufgeben – weil ihre Zahl stetig steigt. Waren 1982 noch 84 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen, sank diese Zahl bis 2011 auf nur noch 57,3 Prozent – und nicht wenige Experten befürchten, dass dieser Wert am übernächsten Sonntag noch unterboten werden könnte.
Wer dem Problem auf den Grund gehen möchte, muss vor allem die anonymen Großsiedlungen der Stadt aufsuchen – Osdorfer Born, Steilshoop, Kirchdorf-Süd, oder eben Neuwiedenthal. Hier, im Südwesten der Stadt, genauer gesagt im Wahllokal 71411, stimmten vor vier Jahren ganze 15 Prozent der Berechtigten ab – hamburgweiter Negativrekord. Im Wahllokal 71409, das ebenfalls in der Grundschule Quellmoor eingerichtet war, sah es mit 19,3 Prozent kaum besser aus. Rechnet man beide Urnen zusammen, ergeben sich niederschmetternde Zahlen: Von rund 10.000 Wahlberechtigten erschienen nur 1750. Selbst wenn man einen gewissen Anteil Briefwähler hinzurechnet, der sich im Nachhinein aber nicht mehr bestimmten Wahllokalen zuordnen lässt, bliebe es dabei: In Straßen wie Stubbenhof, Maakenhofwinkel, Thiemannhof, Quellmoor und Teilen des Rehrstiegs stellen die Wahlverweigerer die übergroße Mehrheit. Es sind die Straßen der Nichtwähler.
Im „Backstübchen“ am Rehrstieg, in einem Flachbau am Fuße der großen Wohnblocks, wird daraus gar kein Hehl gemacht. „Das ist hier halt ein sozialer Brennpunkt“, sagt eine Angestellte. Für Jugendliche gebe es kaum Angebote, das Jugendzentrum hätten sie auch dichtgemacht. Sie sei selbst hier aufgewachsen, so die 37-Jährige. „Ich bin ein Stubbenhofkind, aber wir haben früher im Moor gespielt.“ Heute säßen die Jugendlichen im Park, saufen und kiffen. Nur der „Kindertreff Neuwiedenthal“, den Prominente wie TV-Koch Steffen Henssler über die Stiftung Mittagskinder finanzieren, der sei super.
Eine Kundin kommt herein und lässt ungefragt die klassische Schimpfkanonade der Frustrierten los: „Die ganze Politik geht mir am A.... vorbei. Die machen doch eh, was sie wollen. Was wir wollen, interessiert die doch gar nicht.“ Die ganzen Plakate, wer bezahle die eigentlich? Und erst der Euro. Und Griechenland. Auch aus einer zweiten Verkäuferin sprudelt es heraus: „Ich geh’ nicht wählen, obwohl ich selbst Wahlhelferin bin.“ Die Frage nach dem Warum beantwortet die 35-Jährige gleich mit: „Für mich ist das Hauptproblem hier der große Ausländeranteil.“ Ihr elfjähriger Sohn sei auf dem Schulweg böse „zusammengetreten“ worden, einfach so. Als sie bei Facebook etwas über die mutmaßlichen Täter gepostet habe, sei sie sofort wüst als Ausländerfeindin beschimpft worden. „Ich bin kein Nazi“, betont die junge Frau, die wie ihre Kollegin ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Aber ich habe Angst um meine Kinder.“ Dass die an der Armutsgrenze leben müssten, während Aussiedler und Flüchtlinge „alles“ bekämen, das bekomme sie einfach nicht in ihren Kopf, sagt sie und hält die Hände an die Schläfen. „Aber das ist ein heikles Thema."
Seit dem Selbstmord von Mirco, 17, hat sich viel getan in Neuwiedenthal
Keine 100 Meter weiter, am Quellmoor, treffen sich die Nachbarn Siegfried Bostelmann, 78, und Manuela Fischer, 33, vor der Haustür. Sie bringt gerade den Müll runter, er hat eingekauft. Nichtwähler? Nein, sie gehen beide wählen. „Olaf Scholz ist mein Kandidat“, betont Bostelmann und outet sich als Sozialdemokrat. Aber er wisse auch von ganzen Wohnblocks, aus denen 2011 kaum einer gewählt habe. Seine Begründung: „Den Leuten geht es zu gut. Die Deutschen jammern auf hohem Niveau.“ In Neuwiedenthal seien Millionenbeträge investiert worden, dennoch würden viele Bewohner nur motzen. Wenn einer der vielen Hartz-IV-Empfänger sich beklage, wie teuer alles sei, antworte er stets: „Dann rauch doch weniger und sauf nicht so viel.“
Tatsächlich hat sich viel getan, seit jenem 31. Januar 1997. Damals hatte sich der 17 Jahre alte Mirco am S-Bahnhof Neuwiedenthal vor eine Bahn geworfen, weil er die Erpressungen der „Stubbenhofgang“ nicht mehr aushielt. Sein Tod hat mit dazu beigetragen, dass es heute ein kaum zu überblickendes Angebot an sozialen Angeboten gibt. Allein die Saga GWG, mit 2285 Wohnungen der größte Vermieter in der Siedlung, hat seit 1999 rund 53 Millionen Euro investiert, vor allem in Sanierung des Bestands, aber auch in die Kulturreihe „live im Quartier“, Stadtteilmarketing und Sportangebote.
Brigitta Schulz kann Ähnliches berichten. Die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, die im Wahlkreis Süderelbe antritt, steht auf dem „Dorfplatz“ und zeigt durch den Schneesturm: „Hier entsteht eine neue Skateranlage.“ Dahinter, das sei das Jugendcafé, das bis 22Uhr geöffnet habe. Daneben sei ein Bauspielplatz, ein paar Meter weiter das „Spielehaus“. Weiter geht es zum Stubbenhof, dort bietet das Rote Kreuz Mittagessen für Kinder und Eltern-Beratung im „Stubbennest“ an. Daneben wirbt das Stadtteilhaus für Familienfrühstück, Frauengruppen, Deutschkurse und Kinderkino. Am Sonnabend läuft „Ritter Rost“. Und das Jugendzentrum wird auch neu gebaut, 1,2 Millionen Euro hat die Bürgerschaft dafür kürzlich bewilligt. „Das war früher eine schlimme Gegend“, sagt Brigitta Schulz, „aber heute leben die Menschen gern hier.“ Aber warum wählen sie nicht? Schulz zögert kurz. Da sei zum Beispiel der hohe Migrantenanteil. Gut 50 Prozent sind es im Stadtteil Hausbruch, zu dem Neuwiedenthal gehört, in der Siedlung selbst ist er noch deutlich höher. Dazu kommen viele Russlanddeutsche. Viele dieser Gruppen blieben lieber unter sich. Und die mangelnden Angebote am Abend, Kneipen, Discos etwa, das sei auch ein Problem..
„Die Leute haben hier einfach andere Sorgen“, sagt André Trepoll und schiebt etwas resigniert nach: „Eine tiefere Analyse habe ich auch nicht.“ Auch der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete tritt im Wahlkreis Süderelbe an und kennt Neuwiedenthal gut. Aber mit den Menschen hier ins Gespräch zu kommen, sei schwer. Dabei würde er gern erklären, warum die CDU in ihrer Regierungszeit so wenige Wohnungen gebaut habe: „Weil wir in den Bestand investiert haben“, sagt Trepoll und zeigt auf die Häuser am Stubbenhof. „Vor 15Jahren sah es hier ganz anders aus.“ Das Hauptproblem sei aber, dass solche Großsiedlungen überhaupt gebaut wurden: „Wenn so viele Menschen auf so engem Raum zusammenleben müssen, gibt es halt Probleme.“ Die niedrige Wahlbeteiligung ist nur eines davon.