Die Terrorbedrohung wird zum alltäglichen Begleiter. Wir werden damit leben müssen
Es ist noch nicht lange her, da hätte die Republik aufgeregt darüber diskutiert, ob das beabsichtigte Verbot von Quengelware an Supermarktkassen richtig ist, warum der Pannenflieger A400 solche Probleme bereitet oder wie eine Frauenquote die Bundeswehr nach vorne bringt. Vorbei. Der Mordanschlag auf die Satiriker des „Charlie Hebdo“ und das Massaker in einem jüdischen Supermarkt haben unsere heile Welt zersplittert.
Zwar gibt es eine tiefe Sehnsucht nach einem Zurück in die „gute, alte Zeit“ vor dem 7. Januar 2015, aber sie könnte ein frommer Wunsch bleiben. Europa ist in Aufruhr: Jeden Tag gibt es neue Einsätze gegen junge Muslime, die hassen und töten wollen. Jeden Tag stechen die Ermittler in ein neues Netz von „Gotteskriegern“. Und jeden Tag gibt es neue Vorsichtsmaßnahmen, die erschaudern lassen. Paris gleicht einer Stadt im Belagerungszustand, jüdische Schulen blieben am Freitag in Belgien aus Vorsicht geschlossen. Satiriker und Journalisten haben plötzlich eine Schere im Kopf, weil sie seit den Morden um Leib und Leben fürchten. Unsere Freiheit, sie hat schon Schaden genommen. Aus Vorsicht. Aus Fürsorge. Aus Angst. Die Islamisten haben damit mehr erreicht, als uns lieb sein kann. Das ist der wahre Eingriff in die Freiheit. Es mutet schon bizarr an, dass wir heute aufgeregt über die Vorratsdatenspeicherung streiten, aber schon die Frage, was der Islamismus mit dem Islam zu tun hat, für islamophob halten.
Natürlich ist der Ruf nach mehr Sicherheit unter dem Eindruck aktueller Anschläge reflexhaft. Und doch sollte man lieber zielführende Maßnahmen umsetzen, bevor Syrien-Heimkehrer mit Kalaschnikows durch deutsche Straßen laufen. Anders als in früheren Sicherheitsdebatten ist die Bedrohung deutlich realer geworden. Verrückte Einzeltäter gab es immer, heute aber hat es die westliche Welt allein mit Hunderten Syrien-Heimkehrern zu tun, die alle zu Einzeltätern werden könnten. Totale Sicherheit ist längst eine Illusion.
Hans Magnus Enzensberger warnte schon 1993 vor dem „molekularen Bürgerkrieg“. Damals schrieb Enzensberger unter dem kollektiven Kopfschütteln des Feuilletons über die neue Bedrohungslage durch Fanatiker und Frustrierte wie über die völlig veränderte Rolle der Medien und Öffentlichkeit. Das klang damals pessimistisch und alarmistisch. Und wurde doch wahr: Früher versuchten Fanatiker, alle Spuren eines Massakers zu verwischen. Heute sind Facebook, YouTube und das Internet wichtige Rekrutierungszentren des Dschihad. Der totale Kulturbruch mit Enthauptungen und Erschießungen ist längst Kern einer perversen Jugendkultur. Enzensberger zitiert in dem Buch übrigens auch einen französischen Sozialarbeiter aus der Banlieue von Paris: „Sie haben schon alles kaputt gemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Sie erkennen keinerlei Regeln an.“ In diesen Banlieues nistet heute der Islamismus.
Um diese Neudefinition der Regeln wird es deshalb auch in Deutschland gehen müssen – und um klare Sanktionen gegen den Regelbruch. Wegschauen, Wegducken, Wegrelativieren kann keine Lösung mehr sein. Freiheit und Toleranz müssen gegen die Intoleranz verteidigt werden, betonte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer klugen Regierungserklärung.
Das französische Beispiel zeigt zugleich, dass die islamistische Gefahr auch etwas mit Sozialpolitik zu tun hat. In den Gettos, in der Arbeits- und Perspektivlosigkeit, bei den Abhängern und Abgehängten gewinnen radikale Prediger am leichtesten Nachwuchs für den Dschihad. Je integrierter die Jugendlichen sind, desto schwerer haben es die Rattenfänger. Und je überzeugter wir unsere Grundwerte leben, desto attraktiver und integrativer wird diese Gesellschaft. Das alles gibt keine Sicherheit, aber es minimiert das Risiko.
Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur des Abendblatts