Sollte bei der WM und im Fußball an sich Torlinientechnik angewendet werden - oder nicht? Zwei Meinungen aus der Abendblatt-Redaktion.
Pro: Gleiche Rechte für Fans und Schiedsrichter
von Lars Haider
Es gibt keine Sportart, die professioneller präsentiert und vermarktet wird. Es gibt kein Sportereignis, das weltweit mehr Aufmerksamkeit erregt. Und es gibt keine Worte dafür, wie amateurhaft ausgerechnet der Fußball ist, wenn es um die Bewertung von entscheidenden Situationen bei einer Weltmeisterschaft geht. Es kann doch nicht sein, dass bei einem Turnier, bei dem Milliarden auf dem Spiel stehen und das Milliarden aufregt, im Zweifel ein armer einzelner Mann über Sieg und Niederlage entscheidet. Allein schon um die Schiedsrichter zu schützen und zu unterstützen, müssten die Fußball-Verbände alles dafür tun, ihnen die Arbeit zu erleichtern. Ein erster, ewig diskutierter Schritt ist ja bei der WM in Brasilien unternommen worden. Endlich ist die Torlinien-Technologie im Spiel, und siehe da: Es tut gar nicht weh, und der Fußball ist dadurch nicht langweiliger geworden, sondern schlicht ein weiteres Stück fairer und gerechter. Was in der Partie Frankreich gegen Honduras erstmals zu beweisen war.
Es dabei zu belassen und den Schiedsrichtern weitere technische Hilfsmittel vorzuenthalten wäre so anachronistisch wie gefährlich. Denn tatsächlich ist Fußball ja längst nicht mehr nur ein Spiel; tatsächlich geht es um viel mehr, um Geld und Ehre, um Helden und Versager. Und deshalb sollten doch dem Schiedsrichter zumindest die Informationsquellen zur Verfügung gestellt werden, die jeder normale Zuschauer vor dem TV-Gerät hat. Also zum Beispiel eine Zeitlupe, die zeigt, dass der gerade gepfiffene Elfmeter für Brasilien wenn überhaupt ein Fall von Unsportlichkeit war. Wer hindert den Weltverband Fifa eigentlich daran, seinen sowieso verkabelten Schiedsrichtern von außen ins Ohr oder auf die Uhr sagen zu lassen, wie diese oder jene strittige Entscheidung tatsächlich zu bewerten ist? Technisch geht das alles ohne Probleme, und wer behauptet, so etwas würde das Spiel langsamer machen, der lügt. Das Tempo aus der Weltmeisterschaft nehmen unendliche Diskussionen über diesen und jenen Pfiff oder minutenlanges Hin- und Herrücken von Freistoßmauern. Die Wahrheit ist doch: Die Technik kann den Fußball schneller machen, siehe auch hier Frankreich gegen Honduras.
Bleibt der Wunsch, dass im Fußball nicht alles berechenbar und überprüfbar sein sollte. Wir sprechen uns, wenn Deutschland wegen eines unberechtigten Elfmeters ein Spiel verlieren (oder nicht gewinnen) sollte...
Contra: Bitte lasst nicht das Fernsehgericht tagen
von Henrik Jacobs
Es war die wohl eindeutigste von diversen Fehlentscheidungen bei dieser noch jungen Fußball-WM: Als Brasiliens Stürmerbär Fred im Eröffnungsspiel gegen Kroatien im Zweikampf mit Dejan Lovren zu Boden sank, als wäre er gerade von einem Jäger erschossen worden, zeigte Schiedsrichter Yuichi Nishimura aus Japan auf den Elfmeterpunkt. Ein Videobeweis hätte den Schwindler in dieser Szene schnell überführt. In dieser Szene ja, in vielen anderen Szenen aber nicht. Wie viele Zeitlupen braucht Béla Réthy als Kommentator, um sich in einer kniffligen Elfmetersituation auf richtig oder falsch festzulegen? In der Regel vier bis fünf, um anschließend zu schlussfolgern: „Kann man pfeifen, muss man aber nicht.“
Nehmen wir die berühmte Szene Rudi Völler gegen Argentiniens Roberto Sensini, die Deutschland 1990 zum Weltmeister machte. Foul oder nicht? Elfmeter ja oder nein? Der mexikanische Schiedsrichter Edgardo Codesal Méndez entschied sich zum Glück für Deutschland – auf Elfmeter. Eine Entscheidung, die kein Videobeweis der Welt hätte auflösen können. Und genau deswegen ist der umfassende Videobeweis falsch. Es gibt im Fußball einfach zu viele Szenen, die trotz Super-Double-Triple-Sensor-Hightech-Slow-Motion nicht aufzuklären sind.
Nun sagen viele, im Tennis klappt das doch auch. Aber Tennis ist eben nicht Fußball. Ob ein Ball auf oder neben der Linie war, ist per Videobeweis leicht zu entscheiden. Deswegen ist die Einführung der Torlinientechnik im Fußball auch die wichtigste Modifizierung der Ursprungsregeln seit dem Verbot des Handspiels für Feldspieler im Jahre 1871.
Sollte es eine ähnliche Technik geben, die eine Abseitsentscheidung zuverlässig anzeigen kann, sofort her damit. Alles andere sollte weiterhin der Schiedsrichter entscheiden. Oder haben Sie Lust auf eine Spielunterbrechung, damit das Fernsehgremium der Fifa über einen Einwurf entscheidet? Oder der Schiedsrichter seinen Videoobmann anruft, um über eine Gelbe Karte zu verhandeln?
Fehlentscheidungen gehören zum Fußball einfach dazu, daran würde auch der Videobeweis nichts ändern. Genau wie die Diskussionen, ob die Fehlentscheidung auch wirklich eine Fehlentscheidung war. Wie sagte schließlich „Lichtgestalt“ Franz Beckenbauer nach der so eindeutigen Schwalbe des Brasilianers Fred? „Den Elfmeter kann man geben.“ Wer will dem Kaiser da schon widersprechen ...