Militärs und Islamisten in Ägypten wollen von den Kopten-Unruhen profitieren.
Als die "Arabellion", der Aufstand jahrzehntelang entmündigter und ihrer Entwicklungschancen beraubter Menschen in der arabischen Welt, um den vergangenen Jahreswechsel herum ausbrach und im Sturz des ägyptischen Pharaos Mubarak ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, da hagelte es euphorische Vergleiche mit dem Zusammenbruch des Ostblocks um 1990. Weitgehend voreilig, wie sich inzwischen zeigte.
Staaten wie Polen, Tschechien oder Ungarn konnten im Gegensatz zu arabischen Ländern auf soliden zivilgesellschaftlichen Traditionen und einem hohen Bildungsstand ihrer Bürger aufbauen; zudem wurden sie rasch von der Europäischen Union aufgefangen. Vor allem aber gibt es im EU-Europa keine dominanten antidemokratischen Bewegungen, wie sie die Muslimbrüder oder gar die Salafisten in Ägypten darstellen. Das stärkste Land der arabischen Welt mit seinen rund 84 Millionen Einwohnern ist nach der Entmachtung Husni Mubaraks keineswegs befriedet.
Ganz im Gegenteil. Mubaraks eiserne Hand hatte über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass sich die sozialen und religiösen Spannungen nicht destruktiv entladen konnten.
Gewiss - der Hass etwa zwischen den Muslimen und den christlichen Kopten ist alt; Zusammenstöße gab es auch früher schon. Dass es nun aber zu den schwersten Unruhen seit dem Sturz Mubaraks mit Dutzenden Toten und Verletzten kommen konnte, hat mehrere Ursachen.
Zum einen folgen diese Ereignisse einem uralten Prinzip: Aufgestaute Wut in einer Gesellschaft richtet sich bevorzugt gegen andersartige Minderheiten, die als Prügelknaben herhalten müssen. Die Kopten tragen keinerlei Schuld daran, dass die provisorische Regierung Ägyptens die verzweifelte wirtschaftliche Lage von Millionen Menschen bislang nicht verbessern konnte. Aber sie begehren gegen ihre zunehmende Isolierung auf. Zudem kommt es den alten Militäreliten sehr gelegen, dass Unruhen ausbrechen. Auf diese Weise können sie ihre restriktiven Gesetze - die letztlich ihren Machterhalt sichern - vollmundig verteidigen und bekommen noch Applaus von verängstigten Bürgern dafür. Ungeachtet des Endes von drei Jahrzehnten Mubarak-Regime liegt die eigentliche Macht immer noch in den Händen der Militärs.
Und die waren noch nie zimperlich in der Wahl ihrer Mittel. Man darf nicht vergessen, dass die unsäglichen "Jungfräulichkeitstests" der Militärs an aufmüpfigen Demonstrantinnen, begleitet von Folter, bereits unter der neuen Führung stattfanden.
Und die stärkste organisierte zivile Gruppe in Ägypten, die Muslimbrüder, treibt ein ähnlich zynisches Kalkül an. Sie - und noch weit mehr die radikalen Salafisten - streben einen rein muslimischen Gottesstaat an. Was in Ägypten derzeit stattfindet, trägt bereits beunruhigende Züge einer "ethnischen Säuberung". Islamisten brandmarken die Kopten kurzerhand als Teil einer "jüdisch-christlichen Verschwörung". Auch die Islamisten empfehlen sich als starke Ordnungsmacht und setzen darauf, dass ein Chaos ihnen Wähler zutreiben werde. Für das Land am Nil entsteht dabei ein weiteres Problem: Die Vertreibung der Kopten - 100 000 sind bereits geflohen - trifft eine wirtschaftlich besonders erfolgreiche Gruppe der Gesellschaft. Die koptische Elite packt ihre Koffer. Es ist ein Aderlass, den sich Ägypten gar nicht leisten kann.
Die moderaten Gruppen sind bei dem lauten Kriegsgeschrei kaum noch zu vernehmen. Letztlich läuft es in Ägypten wohl auf einen unappetitlichen Machtkampf hinaus zwischen islamistischen Gruppen - denen derzeit gute Chancen eingeräumt werden, die geplanten Wahlen im November erdrutschartig zu gewinnen - und den Militärs. Letztere könnten sogar versucht sein, die Wahlen "aus Sicherheitsgründen" zu verschieben.