Hamburg. … und Gäste die Talkshow kapern. Heute: Lehrstunde mit Kühnert und Merkel. Und ein Gespräch „über Moral und Interessen“.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert?

Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.


3. Mai (Gäste: Politiker Kevin Kühnert, SPD, Journalist Robin Alexander, Rechtsphilosoph Reinhard Merkel und Politologin Jana Puglierin
)

Zu den unangenehmeren Dingen im Leben eines Talkshow-Moderators gehört es, wenn er teilweise oder ganz die Kontrolle über seine Sendung verliert. Markus Lanz ist an diesem 3. Mai kurz davor, sein Redeanteil ist in den 75 Minuten so gering wie selten, und zwischenzeitlich beginnen seine Gäste, sich gegenseitig das Wort zu erteilen, der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ruft der Redaktion sogar zu, dass sie einen bestimmten Text noch einmal einblenden soll – was dann auch prompt geschieht. Lanz ist gekapert.

Dass das so weit kommen konnte, liegt vor allem an einem Jura-Professor aus Hamburg. Reinhard Merkel hat zusammen mit anderen klugen und/oder prominenten Persönlichkeiten einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz verfasst, in dem sie vor einem Dritten Weltkrieg infolge der Waffenlieferungen warnen. Wörtlich heißt es darin: „Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik. Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. (…) Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“

Es sind solche Sätze, die Lanz normalerweise auseinandernimmt, aber diesmal gelingt es ihm nicht. Merkel dominiert das Gespräch, das mal sehr theoretisch und dann sehr emotional geführt wird, etwa als der emeritierte Professor der Universität Hamburg behauptet, dass die ukrainische Regierung eine Mitschuld an den vielen Opfern des Krieges hat: „Die Kinder würden lieber überleben, als den Preis für die Tapferkeit ihrer Regierung zu bezahlen“, sagt er, und dass die Hoffnung auf einen Sieg der Ukraine eine Illusion sei, die den Krieg nur unverhältnismäßig verlängere. Markus Lanz wirkt in solchen Momenten, als müsse er nach Luft schnappen, und auch die anderen Gäste werden von Minute zu Minute unruhiger. Am Ende der Sendung entlädt sich die ganze Spannung, als es um die Frage geht, wie realistisch die Gefahr eines Atomkriegs ist, über den auch Olaf Scholz gesprochen hat.

Kühnert sagt: „An jedem Abendessentisch wird in Deutschland über diese Fragen, und zwar nicht erst seit einer Woche, sondern seit Beginn dieses Krieges diskutiert.“

Lanz versucht, dazwischenzukommen: Aber Herr Kühnert, Herr Kühnert, Tschuldigung …“

Kühnert: „Darf ich bitte ausreden. Nein. In vielen Familien wird genau darüber diskutiert …“

Lanz: „Aber Sie werden doch nicht bestreiten, Sie werden nicht bestreiten …“

Kühnert: „Ich werde mir nicht einreden lassen …“

Lanz: „Das müssen Sie leider.“

Kühnert: „… dass den Leuten Angst gemacht wurde durch politische Verantwortungsträger, die signalisieren, dass einem bewusst ist, dass wir hier mit ganz exklusivem Material zu arbeiten haben …“

Lanz: „Tschuldigung …“

Kühnert: „ … dass eine der beteiligten Kriegsparteien eine Atommacht vertritt.“ (…) Es ist doch eine ganz normale intrinsische Entwicklung einer Gesellschaft, sich über Eskalationsspiralen Gedanken zu machen.“

Lanz sagt: „Herr Kühnert, Herr Kühnert …“, aber er kommt nicht dazwischen, Robin Alexander widerspricht, Merkel hätte auch noch etwas zu sagen, und Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin „will schon so lange“.

„Wir sind leider am Ende der Zeit tatsächlich, das ist die schlechte Nachricht“, sagt Lanz, als die anderen ihm endlich zuhören, und dass er finde, man sollte die Debatte weiterführen: „Wenn Sie einverstanden sind.“


4. Mai (Gäste: Politiker Norbert Röttgen, CDU, und Netzagenturchef Klaus Müller
)

Wer auf der Suche danach ist, was Markus Lanz als Moderator antreibt und warum er so fragt, wie er fragt, erhält beim ZDF einen wichtigen Hinweis. Er sei auf einer „Gerechtigkeitsmission“, heißt es dort. Das stimmt, und das hat viel mit Lanz‘ eigener Sozialisation und der Erfahrung zu tun, wie es ist, zu den Schwachen und Benachteiligten zu gehören, die er in seiner Kindheit und Jugend gemacht hat. Deshalb arbeitet er auf „Momente der Ehrlichkeit“ hin, die es in dieser Sendung gleich mehrfach geben wird. Es geht um die Frage, was eigentlich wäre, wenn Deutschland von heute auf morgen auf russisches Gas verzichten müsste, etwas, was der eine Gast, CDU-Politiker Norbert Röttgen, seit Langem fordert, weil man damit Russland im Krieg gegen die Ukraine entscheidend schwächen könnte.

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Der andere Gast, Klaus Müller, ist Leiter der Bundesnetzagentur, muss Deutschland genau auf diesen Fall vorbereiten und gibt zu, dass das noch nicht ausreichend geschehe. Überhaupt liefert der ehemalige Minister Lanz die Momente, von denen oben die Rede war: Müller erzählt, dass Rheden (Lanz: „der größte deutsche Gasspeicher“, Müller: „da hat jemand seine Recherchen gemacht“) über Monate systematisch entleert worden sei, und zwar von seinem Betreiber, Gazprom Germania, Kriegsvorbereitungen, die in Deutschland offenbar niemand sehen wollte, obwohl sie so offensichtlich waren. Und der Netzagenturchef gibt zu, dass man angesichts der drohenden Gas-Notlage Energiepolitik nach dem Prinzip des Stärkeren macht. Müller sagt: „Wenn es Deutschland gelingt, noch in diesem Winter zwei schwimmende Flüssiggasterminals, wahrscheinlich in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, anzuschließen, dann hilft das richtig. Die nehmen wir natürlich auf dem Weltmarkt jemand anders weg, auch das ist ein Teil der Wahrheit.“

Lanz: „Wem nehmen Sie die weg?“

Müller: „Anderen Ländern, die eigentlich diese Tanker gebucht hatten in Asien, nicht nur den reichen Ländern dort, sondern wahrscheinlich auch denen, die weniger zahlen als wir.“

Lanz: „Was heißt, die nehmen Sie denen weg? Sie zahlen einfach mehr.“

Müller: „Wir zahlen mehr. Deutschland zahlt mehr als andere Länder.“

Lanz: „Germany first, würde ich mal sagen. Das ist ja ein richtig harter darwinistischer Vorgang, würde ich mal sagen.“ (…)

Müller: „Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furchtbares Dilemma.“

Lanz: „Wow, ist ja Wahnsinn. (…) Wir leiten Schiffe um und ziehen Leute über den Tisch.“


5. Mai (Gäste: SPD-Politiker Hubertus Heil, Journalistin Golineh Atai, Politologe Wolfgang Merkel und Zukunftsforscher Matthias Horx
)

Während in der Ukraine seit mehr als zwei Monaten der Krieg tobt, schreiben in Deutschland Intellektuelle offene Briefe an Bundeskanzler Olaf Scholz. Eine Gruppe warnt vor deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine, weil der Krieg dadurch eskalieren könnte, die andere fordert sie. Bei Markus Lanz geht es deshalb um „Deutschland und die Angst, immer tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden“, und der Moderator traut sich was: Nachdem der Jurist Reinhard Merkel die Sendung am Dienstag gesprengt hat, ist diesmal dessen Bruder eingeladen. Der Politologe Wolfgang Merkel hat den Brief der Mahner mit unterschrieben, aber er bemüht sich, den von seinem Bruder erzeugten Eindruck zu relativieren, man wünsche sich eine Kapitulation der Ukraine. Das Land müsse und dürfe natürlich selbst entscheiden, wie es sich verteidigen wolle, sagt er, und: „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Das hört sich schon mehr nach der Linie der Bundesregierung an, für die Arbeitsminister Hubertus Heil im Studio ist, ein enger Wegbegleiter von Olaf Scholz und einer, der als Gesprächsgast selbst für Markus Lanz eine Herausforderung ist.

Heil lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen, weder durch Fragen zu SPD-Altkanzler Gerhard Schröder und dessen Verbindungen zu Wladimir Putin, noch durch Lanz‘ Vorwurf, Deutschland würde anderen Ländern Flüssiggas und die dafür benötigten LNG-Termi­nals wegnehmen. Er spielt auf das an, was Klaus Müller, Leiter der Bundesnetzagentur, am Vortag bei ihm gesagt hat, und Heil stellt erst mal fest, „dass ich die Sendung nicht gesehen habe“, was kein Moderator gern hört.

„Das ist ein harter darwinistischer Vorgang, wenn man so will, da gilt Germany first“, sagt Lanz, und fragt Heil, ob das moralisch richtig ist. Der kontert: „Man versucht in dieser Welt moralisch Richtiges zu tun, aber man muss sich auch Realitäten stellen. Das ist die Aufgabe verantwortlicher Politik.“

Lanz: „Aber noch mal, das sind Staaten, die haben Verträge, die haben das bestellt, die brauchen das für ihre Wirtschaft. Dieses Gas ist auf dem Weg zu denen …“

Heil: „Das ist ja nicht ganz richtig.“

Lanz: „Doch.“

Heil: „Nein. Entschuldigung, dann müssen wir mal einen Faktencheck machen, den hat Ihr Kollege in einer anderen Sendung.“ (…)

Wolfgang Merkel mischt sich ein: „Das Thema ist meiner Meinung nach: Moral triff auf Interessen.“

Lanz, triumphierend: „So.“

Heil, sehr nüchtern: „So ist die Welt.“ (…)

Lanz: „Was offensichtlich auch auf uns zukommt, ist: Wir, die reichen Länder des Westens, kaufen jetzt, weil wir es uns leisten können, Getreide auf und nehmen es sozusagen armen Afrikanern weg.“

Heil weiß, dass Deutschland seinen Getreidebedarf ganz allein decken kann, und sagt deshalb: „Nein, das ist nicht ganz richtig … In der Plakativität ist leider die Welt noch ein bisschen differenzierter.“

Und es hört sich an, als ob er das nicht nur zu einem TV-Moderator sagt, sondern auch zu klugen Menschen, die in Kriegen Briefe schreiben.