Berlin. Der neue Film von Jacques Audiard sprengt die Grenzen zwischen Musical, Melodram und Gangsterthriller – und feiert die großen Gefühle.

Es ist alles ein bisschen viel, ist der erste Gedanke, der einem zu Jacques Audiards neuem Film „Emilia Pérez“ durch den Kopf schießt. Da ist die Ankündigung, dass es sich um ein Musical handelt, was man von dem französischen Regisseur von so sozialrealistischen Werken wie „Ein Prophet“ und „Der Geschmack von Rost und Knochen“ nicht erwartet hätte. Dass sich die Handlung dabei um Drogenkrieg und die blutigen Hinterlassenschaften eines mexikanischen Kartellbosses drehen soll, scheint sich mit dem Musical-Genre sogar richtig zu beißen. Und wie, um alles in der Welt, soll dazu auch noch das Thema Transgender passen?

Aber gerade deshalb wirken die ersten Szenen auch wie ein Wunder: Man staunt darüber, dass es anscheinend doch geht, das alles zu einem sogar fesselnden Ganzen zusammenzubringen: Singen und Tanzen, die Künstlichkeit von Choreografien und die hässliche Realität von Auftragsmord und Mafia-Schergen.

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Zunächst lernt man Rita (Zoe Saldaña) kennen, eine Anwältin in Mexiko City, die sich in ihrer Kanzlei missachtet fühlt und außerdem bei dem Auftrag, mit dem sie betraut ist, Gewissensbisse empfindet. Sie soll einen Mann verteidigen, der sehr wahrscheinlich seine Frau vom Balkon gestoßen hat. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass ihr Moralempfinden in Widerspruch mit ihren Handlungen gerät. Dass sie das in Gestalt eines balladenhaften Songs beklagt, leuchtet unmittelbar ein.

Das nächste Angebot, sich gewissermaßen zu korrumpieren, kommt bald, die Entscheidung, in diesem Fall „Ja“ zu sagen, fällt ihr umso leichter: Der berüchtigte, für etliche Auftragsmorde verantwortliche Kartellboss Juan „Manitas“ Del Monte (Karla Sofía Gascón) wirbt um ihre Dienste. Sein Anliegen ist ein spezielles, für das er absolute Geheimhaltung einfordert, noch bevor er es überhaupt äußert. Rita soll ihm dabei helfen, eine neue Identität anzunehmen, und zwar als Frau.

Ein geläuterter Mensch: Emilia (Karla Sofía Gascón)
Ein geläuterter Mensch: Emilia (Karla Sofía Gascón) © Neue Visionen | Wild Bunch

Die Geschlechtsumwandlung ist mehr als nur ein Vorwand, den Manitas nutzt, um sich den Armen des Gesetzes zu entziehen. Aber die operativ unterstützte Transition wird hier auch nicht als die äußere Anpassung an eine innere, schon lang bestehende Wahrheit verhandelt, wie es im Transgender-Diskurs sonst meist geschieht. „Changing the body changes society” – „Den Körper verändern heißt die Gesellschaft verändern“, singt Rita in der Nummer, in der sie im Auftrag von Manitas einen auf solche Eingriffe spezialisierten Chirurgen (Mark Ivanir) in Tel Aviv zur Teilnahme zu überreden versucht. Es ist eine Szenenfolge und eine Komposition, die in der Direktheit und Kühnheit, mit der hier etwa die „Vaginoplastia“ besungen wird, verblüfft und die hochgradig originell scheint. Allzu schnell jedoch findet der Film ins Muster des leicht seifenopernhaften Melodrams zurück.

Nachdem Rita dafür gesorgt hat, dass Manitas einen glaubhaft vorgetäuschten Tod stirbt, und dass seine Familie, Ehefrau Jessi (Selena Gomez) und die zwei kleinen Kinder, in einem sicheren, komfortablen Leben in der Schweiz angekommen sind, trennen sich die Wege der beiden. Aber dann, Rita scheint angekommen in einem neuen Leben mit neuen Freunden in London, lernt sie bei einem Essen eine Frau kennen, die sich Emilia nennt. Und wieder kommt es zu einem klandestinen Treffen, bei dem Rita mit einem Auftrag konfrontiert wird, zu dem sie nicht Nein sagen kann. Obwohl sichtbar glücklich im neuen Körper und neuer Identität als Emilia, möchte diese nicht länger auf die Gesellschaft von Frau und Kindern verzichten. Rita soll nun Jessi und die Kinder dazu überreden, zurück nach Mexiko City zur angeblichen entfernt verwandten Tante Emilia zu ziehen. Und weil Rita sehr gut in ihrem Job ist, gelingt ihr das auch.

Wer glaubt, dass das alles eigentlich schon genug Stoff ist, wird überrascht sein, dass hier erst das eigentliche Drama beginnt. Denn mit der Rückkehr nach Mexiko City geraten die Gefühle und Beziehungen so richtig in Schwingung. Das betrifft sowohl das Verhältnis von Emilia zu ihren leiblichen Kindern, von denen etwa der Sohn in einem rührenden Moment an ihr den typischen Geruch seines Papas ausmacht. Als auch das zur Exfrau, mit der Emilia eine Art Kameraderie etablieren kann. Doch dann taucht mit Gustavo (Edgar Ramirez) ein Mann auf, mit dem Jessi schon früher gern eine Liebschaft eingegangen wäre, wenn es damals nicht die tödliche Bedrohung durch den eigenen, für Gewalttaten ja notorischen Ehemann gegeben hätte. Und tatsächlich schlagen bei Emilia, als sie von der aufblühenden Affäre zwischen Jessi und Gustavo erfährt, alte Reflexe zu.

Emilia Pérez: Vom männlichen Gewalttäter zur weiblichen Wohltäterin

Die hochdramatischen Verstrickungen dieses letzten Akts spielen vor dem Hintergrund eines weiteren Handlungselements, das fast zu realistisch aufgreift, was im heutigen Mexiko ein akutes Problem darstellt. Emilia nämlich leistet aktiv Wiedergutmachung für das, was sie als Manitas verbrochen hat. Zusammen mit Rita etabliert sie eine Stiftung, die den Hinterbliebenen von im Drogenkrieg Getöteten dabei hilft, deren Überreste zu finden, zu bestatten und betrauern zu können. Dieser Einsatz, verbunden mit Aufrufen, die Gewalttaten einzustellen und stattdessen den Witwen und Waisen beizustehen, macht aus Emilia eine Art Heilige Johanna der Anti-Drogenkriegsbewegung. Eine Entwicklung, die der Film einerseits feiert, während er andererseits seine metaphorischen Fragen entfaltet.

Auf der einen Ebene wirkt die Gegenüberstellung von männlichem Gewalttäter und weiblicher Wohltäterin als Vorher/Nachher einer Transgender-Identität geradezu provozierend plump. Gleichzeitig regt der letzte Akt, in dem der Film infrage stellt, ob ein Mensch sich tatsächlich ändern kann und welche Rolle die geschlechtliche Identität dabei spielt, weiteres Nachdenken an. Was zuletzt vor allem übrig bleibt, hauptsächlich wegen den überzeugenden Darstellungen von Zoe Saldaña, Selina Gomez und natürlich der herausragenden Karla Sofía Gascón, ist das Bekenntnis zu den ganz großen Gefühlen, zu einem „bigger than life“, egal ob Mann oder Frau, das „Emilia Pérez“ als Kinoerlebnis leistet.

Ab Donnerstag (28.11.) im Kino.