Hamburg. Die Woche mit Lanz: Tschentscher erklärt die Russland- sowie die Corona-Politik – und der Moderator verteilt Komplimente an Habeck.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.


29. März (Gäste: Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher, Virologe Hendrik Streeck, Politologin Margarete Klein, Journalistin Anna Lehmann).

Peter Tschentscher gehört zu den Ministerpräsidenten, die regelmäßig bei Markus Lanz zu Gast sind. Das liegt daran, dass er Politiker und Arzt ist, was in den Pandemie-Jahren die meistgesuchte Kombination für eine Talkshow war, dass er komplizierte Sachverhalte gut erklären kann und dass er aus Hamburg kommt, wo die Sendung aufgezeichnet wird. Diesmal macht ihn zusätzlich seine enge Verbindung zu Olaf Scholz interessant, dessen Nachfolger er als Hamburger Bürgermeister bekanntlich ist. Der Bundeskanzler hat zwei Tage zuvor Anne Will ein Interview gegeben, 60 Minuten, die in Teilen etwas von einer Audienz hatten und die einmal mehr der Beweis dafür waren, dass Scholz der härteste Gesprächspartner für eine Talkshow-Gastgeberin ist. Markus Lanz hat die Sendung natürlich gesehen, und man ahnt, dass er vieles anders gemacht und dass es Scholz bei ihm nicht so leicht gehabt hätte wie bei Will.

Ein Beispiel ist die Debatte über die Rede von US-Präsident Joe Biden in Polen, in der er über Putin gesagt hatte: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Ein Satz, der Olaf Scholz niemals herausgerutscht wäre, ein Satz, der gefährlich hätte werden könnte, weil er in Russland so verstanden werden muss, dass die USA Putin auswechseln wollen, und den die US-Regierung deshalb schnell relativierte. Zu Recht? Lanz sagt: „Ich habe das Gefühl, wir diskutieren jetzt wieder über einen Satz, den doch eigentlich jeder unterschreiben muss, der nur einigermaßen klar bei Verstand ist. „Natürlich sollte dieser Mann dort nicht weiter an der Macht bleiben. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, die Joe Biden da in Wahrheit ausspricht.“ Und: Müsste das der Kanzler nicht ähnlich deutlich tun?

Tschentscher findet, dass sich „Herr Scholz klar geäußert hat, wenn auch in einer anderen Rhetorik: Das war eine typisch amerikanische Art, die Dinge so prägnant und mit harten Worten auszusprechen. Das ist der Stil eines amerikanischen Präsidenten. Ein deutscher Bundeskanzler ist, wenn er so wie Herr Scholz agiert, ein überlegter, ein analytischer, aber auch ein harter und klarer Kanzler. Dieser Stil passt zu Herrn Scholz, und er ist genauso wirksam wie das, was andere Regierungschefs sagen“, sagt Tschentscher, der eine erstaunliche Serie bei Markus Lanz fortsetzt: Er ist der fünfte SPD-Politiker in Folge, der in der Sendung zu Gast ist, und er wurde auch eingeladen, weil nach vielen Wochen plötzlich auch die Corona-Pandemie wieder ein Thema ist.

Deutschland steht trotz Rekordzahlen bei den Neuinfektionen kurz vor der Aufhebung nahezu aller Schutzmaßnahmen gegen das Virus, „weil sich die FDP in den Kopf gesetzt hat, eine Art Freedom Day zu machen“, so Tschentscher. Hamburg will nicht dabei sein, „es wäre unvernünftig, bei diesen Zahlen die Maskenpflicht abzuschaffen“, sagt der Bürgermeister, und dass das neue Infektionsschutzgesetz besser hätte ausfallen können: „Es ist nicht besonders elegant, das gebe ich gern zu.“

30. März (Gäste: die Journalistinnen Marina Owsjannikowa, Katrin Eigendorf und Cordula Tutt, Politiker Michael Roth, SPD; Ökonom Rüdiger Bachmann)
Politische Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen leiden darunter, dass sie bei der Suche nach Gästen auf Ausgewogenheit achten müssen, darauf schauen die Parteien und im Zweifel die Gremien von ARD und ZDF genau. San­dra Maischberger hat im Ersten an diesem 30. März, einem Mittwoch, Annalena Baerbock und Norbert Röttgen zu Gast. Eine Grüne aus der Regierung, ein CDU-Mitglied aus der Opposition – das passt. Markus Lanz hat dagegen mit Michael Roth, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, den sechsten SPD-Politiker in Folge eingeladen. Das ist aus zwei Gründen ungewöhnlich. Erstens, weil die Redaktion von Lanz auch darauf achtet, dass sich im Verlauf einer oder zwei Sendewochen so etwas wie ein Parteienproporz ergibt. Und zweitens, weil eine einzelne Partei eigentlich kein Interesse daran haben kann, ständig bei Markus Lanz vertreten zu sein – oder, um es mit den Worten eines hochrangigen ARD-Mannes zu sagen: „Ich frage mich sowieso, warum es immer noch so viele Politiker gibt, die Lust darauf haben, sich bei Lanz quälen zu lassen.“

Robert Habeck hat die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen

Wie gesagt: Michael Roth ist nach Svenja Schulze, Martin Schulz, Sebastian Fiedler, Klaus von Dohnanyi und Peter Tschentscher der sechste Sozialdemokrat in der Sendung seit dem 17. März, und er hat einen besonderen Auftritt, weil er das zeigt, was man bei Olaf Scholz’ Talkshow-Solo wenige Tage zuvor bei Anne Will vermisst hat: Emotionen. Als Markus Lanz zu Beginn der Sendung mehrere Filme aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine zeigt, zerstörte Wohnsiedlungen und Straßen genauso wie kaum zu ertragende Bilder von verwundeten Kindern, die in ein Krankenhaus eingeliefert werden, hat Roth Tränen in den Augen: „Ich sehe die Bilder zum ersten Mal, und bin … ehrlich gesagt … schockiert.“

Es ist der Tag, an dem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in den Morgenstunden die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen hat, und seitdem diskutiert Deutschland, was das bedeuten könnte, für die Industrie, für Arbeitsplätze, für die Wärme in den eigenen Wohnzimmern. Auch Markus Lanz will darüber reden, aber erst einmal zeigt er, worum es wirklich geht: um das Leid der Menschen in der Ukraine und um den Mut der Menschen in Russland, die gegen Wladimir Putins Krieg aufstehen.

Ökonom Rüdiger Bachmann: Embargo für deutsche Wirtschaft verkraftbar

Marina Owsjannikowa ist aus Moskau zugeschaltet, die Journalistin, die im russischen Fernsehen während einer Nachrichtensendung mit einem Plakat („No war“) gegen den Krieg protestiert hat. „Alle, die sich mit russischer Politik auskennen, haben damit gerechnet, dass Sie irgendwo in einem Lager enden würden“, sagt Lanz. Die Gefahr bestehe nach wie vor, sagt Owsjannikowa, und dass Freunde ihr raten würden, ihren Pass zu nehmen und in die französische Botschaft zu flüchten. Doch das wolle sie nicht: „Mein Ziel war, der ganzen Welt zu vermitteln, dass die Mehrheit der Russen gegen diesen Krieg ist.“ Sie schäme sich, dass das russische Volk auch durch ihren Sender über die wahre Politik Putins getäuscht und desinformiert wurde, es liege nun an den Russen, diesen Wahnsinn zu stoppen, der Staat könne nicht alle ins Gefängnis sperren.

Und es liegt an den Deutschen, Putin so stark es geht unter Druck zu setzen. Nach Owsjannikowa ist Rüdiger Bachmann zugeschaltet. Der Ökonom sagt, dass ein Embargo von Kohle, Öl und Gas aus Russland für die deutsche Wirtschaft verkraftbar wäre, obwohl Kanzler Scholz, das als „falsch und unverantwortlich“ bezeichnet hat. Bachmann gehört zu einem Team von Wissenschaftlern, das untersucht habe, ob ein Energie-Stopp zu „Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut führen würde“, wie die Bundesregierung gewarnt hat.

Michael Roth, SPD: Wir befinden uns in einem furchtbaren Dilemma

„Da kommt dann heraus, dass es sich im schlimmsten Fall um eine schwere Rezession von etwa minus drei Prozent handeln würde“, so Bachmann. Das wäre weniger schlimm als der Wirtschaftsabschwung durch die Corona-Pandemie im Jahr 2020, also verkraftbar. Oder doch nicht? „Wir befinden uns in einem furchtbaren Dilemma“, sagt Michael Roth. „Wenn wir es rein moralisch zu beurteilen hätten, wäre ich sofort dafür, dieses Embargo auszusprechen.“

Er fände es schrecklich zu wissen, dass „wir jeden Tag eine Milliarde Euro an Putin und seine Helfershelfer überweisen, um unsere Energieversorgung zu sichern“. Aber durch ein sofortiges Embargo mache man sich als Politik eventuell an „vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schuldig, die ihren Arbeitsplatz verlieren“, die Inflation werde weiter steigen, die Energiekosten sowieso: „Es gibt schon jetzt in meinem Wahlkreis durchschnittsverdienende Familien, die müssen 2000 Euro im Jahr mehr fürs Heizen zahlen, und damit müssen wir als Politik umgehen“, sagt Roth. Jetzt hat er keine Tränen mehr in den Augen.

31. März (Gäste: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Grüne; Ökonomin Karen Pittel, Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, Journalist Michael Bröcker).
Markus Lanz und Robert Habeck haben ein besonderes Verhältnis. Für den Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler ist die Talkshow das ideale Format, weil er dort genügend Zeit bekommt, seine Politik zu erklären, und weil es den anderswo typischen, oft eintönigen Schlagabtausch zwischen Vertretern verschiedener Parteien nicht gibt. Für Lanz ist Habeck der ideale Gast, weil er so spricht, wie er spricht. Der Politiker hasst Floskeln genauso wie der Moderator und er antwortet nahezu immer auf die Fragen, die ihm gestellt werden, direkt, ohne auszuweichen. Das wiederum führt dazu, dass Habeck, anders als die meisten politischen Gäste in der Sendung, von Lanz so gut wie nie unterbrochen wird, dass er zum Teil minutenlang reden kann, und zwischenzeitlich sogar gelobt wird: „Es ist erstaunlich“, sagt Lanz, „wie schnell wir von Kohle, Öl und Gas wegkommen. Kompliment auch an diesem Punkt.“ Das gibt der Vizekanzler, der aus Berlin zugeschaltet ist, auf seine Art zurück, in dem er bis zum Ende in der Sendung bleibt. „Eigentlich sind Sie schon länger in der Schalte, als vereinbart war“, sagt Markus Lanz irgendwann. „Alles gut“, sagt Habeck.

In der entscheidenden Frage des Tages sind der Politiker und der Moderator aber unterschiedlicher Meinung. Es geht um das Dilemma, in das der Ukraine-Krieg Deutschland gebracht hat. Einerseits müsste man sofort die Lieferungen von Energie aus Russland abstellen, weil Wladimir Putin dafür jeden Tag genau das Geld erhält, „dass den Staat am Leben hält“, so Habeck (der damit übrigens Kanzler Olaf Scholz widerspricht).

Habeck will nicht von einem Dillemma sprechen

Andererseits kann man vor allem auf russisches Gas nicht verzichten, weil das mit großen Risiken für die deutsche Wirtschaft verbunden wäre: „Da bin ich per Amtseid dran gebunden, nicht mit dem Wohlstand des Landes zu zocken“, wird Habeck später sagen. Aber erst einmal will er mit einem falschen Begriff in der Diskussion räumen – dem des Dilemmas: „Es sind schwierige Zeiten, und jede Leichtigkeit ist aus der Politik verschwunden, wenn es sie denn jemals gegeben hat. Aber ein Dilemma ist es nicht. Ein Dilemma wäre es nur, wenn man nicht wüsste, was man tun kann oder tun soll. Und so ist es nicht. Dieses Land hat einen völlig klaren Kurs. Wir müssen solidarisch mit der Ukraine sein, wir müssen alles tun, was in unserer Kraft steht, um diesen Krieg zu beenden. Wir müssen es so tun, dass wir die Maßnahmen lange durchhalten können, dass wir uns nicht selbst stärker schwächen, als die Maßnahmen Putin schwächen. … Es ist kein Dilemma, es geht um abgewogene Politik, der Kompass ist geeicht. Das wollte ich einmal loswerden. … Wollen Sie nachhaken?“

Lanz will: „Die Definition eines Dilemmas ist für mich etwas anderes. Es geht natürlich schon um eine hochmoralische Frage. Wir treffen eine Entscheidung im Zweifel für den industriellen Kern des Landes. … Zur selben Zeit aber regnen Ukrainerinnen und Ukrainern Bomben, Raketen und Granaten auf die Köpfe, und wir machen uns Sorgen um die Wirtschaft … Dieses moralische Dilemma sehe ich ganz klar vor Augen.“

Robert Habeck: "Es ist eine harte, kluge strategische Entscheidung“

Und Michael Bröcker, Chefredakteur von „The Pioneer“ aus Berlin, ergänzt: „Wenn das kein Dilemma ist, Herr Habeck. Sie haben eben gesagt, dass Sie die Ukraine unterstützen, wie es nur geht. Das tun Sie eben nicht, wenn der Westen jeden Tag eine Milliarde Euro für Energie nach Russland überweist. … Wenn die Freiheit uns etwas kosten darf, wenn es im Zweifel immer um die Freiheit geht, dann müssten wir das Gas-Embargo machen." Habeck bleibt dabei: „Es ist kein Dilemma. Es ist eine harte, kluge strategische Entscheidung.“

Aber vielleicht eine, die auf falschen Annahmen beruht, wenn Regierungsmitglieder wie Habeck vor dem Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze und wichtiger Industrieunternehmen im Fall eines Embargos warnen. „Ich sehe nicht, dass es dann zu Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung kommen würde“, sagt Wirtschaftswissenschaftlerin Karen Pittel vom Ifo-Institut.