Hamburg. Die Kündigung ist auf den ersten Blick eine Überraschung. Doch wer genauer hinsieht, versteht schnell, wie es so kommen konnte.

Der Job ist nicht besonders gut bezahlt, ziemlich familienunfreundlich, und wer ihn annimmt, ist sieben Tage 24 Stunden im Dienst. Trotzdem gibt normalerweise niemand ihn freiwillig wieder her: Wer einmal einen Vertrag als Sprecherin und Sprecher der "Tagesschau" unterschrieben hat, bleibt dort in der Regel so lange es geht – oder noch länger, wie jüngst Jan Hofer bewiesen hat, der sogar über das gesetzliche Rentenalter hinaus Chefsprecher war.

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Die „Tagesschau“ ist das Hochamt des deutschen Fernsehens, sie garantiert sowohl einen sicheren Arbeitsplatz als auch eine Popularität, die sich mit anderen Sendungen längst nicht mehr erreichen lässt und aus der man über das bloße Vorlesen von Nachrichten hinaus etwas machen kann. Wer als „Tagesschau“-Sprecherin wirklich Geld verdienen will, macht das nicht mit den Sendungen – für die bestbezahlte 20-Uhr-Ausgabe gibt es rund 260 Euro –, sondern mit Aufträgen, die sich aus der dadurch entstehenden Bekanntheit ergeben. Jan Hofer, Judith Rakers und Co können für Moderationen oder Buchverträge mit mittleren bis hohen fünfstelligen Honoraren rechnen. So oder so: Jeden Tag von Millionen Menschen gesehen zu werden, zahlt sich aus.

Warum Linda Zervakis bei der „Tagesschau“ aufhört

Auch deshalb ist die am Freitag bekanntgewordene Kündigung von Linda Zervakis eine sehr große Überraschung. Begibt man sich auf die Suche nach Gründen danach, wird man aber relativ schnell fündig. Zum Beispiel, wenn man sich das lange Interview noch einmal durchliest, das Jan Hofer bei seinem Abschied als Chefsprecher dem Abendblatt gegeben hat.

Dort sagt er, Zitat Nummer eins: „Diese Sicherheit, bei der ,Tagesschau’ alt werden zu können, hat für die Sprecherinnen und Sprecher etwas sehr Beruhigendes. Das ist das eine. Das andere ist, dass man aufpassen muss, sich nicht mit der Routine zufriedenzugeben.“ Zitat Nummer zwei: „Man muss außerdem begreifen, dass man nie als eigenständige Person, sondern immer als Vertreter des Systems gesehen wird.“ Und Nummer drei: „Als Sprecher der ,Tagesschau’ wirst du ja nicht dafür bezahlt, dass du um 20 Uhr vor der Kamera stehst. Du wirst dafür bezahlt, dass du an 365 Tagen 24 Stunden lang öffentlich für die ,Tagesschau’ da bist.“

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Routine? Vertreterin eines Systems? Immer und überall nur „die aus der ‚Tagesschau‘“? Das passt auf Dauer nicht zu einer erfolgreichen Frau Mitte 40, und zu Linda Zervakis schon gar nicht. Die wollte ursprünglich gar nicht Nachrichtensprecherin werden, sondern Schauspielerin oder wenigstens Moderatorin: „Ich habe an mehreren Schauspielschulen vorgesprochen, so, wie es meine Mutter damals getan hat“, hat sie im Gespräch mit dem Abendblatt einmal gesagt. „Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Existenzangst doch zu groß ist. Ich habe mich nicht getraut, von Theater zu Theater zu tingeln. Ich brauchte die Sicherheit eines monatlichen Einkommens. Dann wollte ich Moderatorin werden, bis mir eines Tages ein Chef gesagt hat, dass meine Stimme wie gemacht sei für Nachrichten.“

Zervakis kann mehr, als Nachrichten vorzulesen

Wer mit Menschen spricht, die Linda Zervakis gut kennen, findet dafür, dass die Stimme ideal für das Vorlesen von Nachrichten sei, zwar eine Bestätigung – für die Frau gelte das aber nicht, sagen Bekannte und Kollegen. Die kann nämlich viel mehr, ist extrem witzig und kreativ, mutig und schlagfertig, eine Mischung aus Barbara Schöneberger, Joko, Klaas und Alexander Bommes. „Ihre Talente waren in der ‚Tagesschau‘ eigentlich verschenkt“, sagt ein bekannter deutscher Fernsehmacher.

Mehr noch: Die Bindung an die Nachrichtensendung, die streng darauf achtet, dass all das, was die freiberuflich arbeitenden Sprecherinnen und Sprecher sonst noch so machen, den „Tagesschau“-Prinzipien nicht schadet, schränkte die vielseitige Zervakis stark ein. Und in der Sendung selbst konnte sie ihre anderen Seiten nur selten zeigen: Etwa, als sie eine Ausgabe in einer Jogginghose moderierte (was natürlich nur als kurzes Video in den sozialen Medien zu sehen war), oder, als auf ihren Vorschlag und ihre Vermittlung hin „Die Ärzte“ live die Erkennungsmelodie der „Tagesthemen“ spielten.

Zervakis will sich bei Pro 7 beweisen

Was sie wirklich kann, zeigt Linda Zervakis in ihren zum Teil urkomischen Büchern, mit denen sie es in die „Spiegel“-Bestsellerliste geschafft hat, in Podcasts (unbedingt reinhören: der Gutenacht-Podcast mit ihr beim Hamburger Abendblatt) und in Sendungen wie „Alles auf Anfang“, in denen sie unter anderem mit Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki nachts in Unterwäsche baden ging. Passt gar nicht zur „Tagesschau“ – aber zu Frau Zervakis, wie sie sich selbst gern nennt.

Die Kündigung dort war deshalb keine Entscheidung gegen die Nachrichtensendung, sondern für all das, was noch in ihr steckt und was rausmuss. Das war in der bisherigen Konstellation nicht möglich, zumal der NDR „Alles auf Anfang“ trotz bester Kritiken inzwischen eingestellt hat, man hat für solche Formate angesichts der bekannten Sparmaßnahmen kein Geld mehr. Linda Zervakis braucht aber etwas jenseits trockener Nachrichten, in dem sie sich ausleben und ausprobieren kann, und das scheint sie jetzt außerhalb öffentlich-rechtlicher Medien gefunden zu haben. Nach Abendblatt-Informationen wird sie zu Pro 7 gehen.

Bator als abschreckendes Beispiel

Die einen in der Medienbranche halten das für einen großen Fehler und erinnern an Marc Bator, der nach seinem Wechsel von der „Tagesschau“ zu Sat.1 stark an Popularität und Bedeutung eingebüßt habe. Die anderen finden den Schritt genau richtig, weil Linda Zervakis nun endlich ungebremst und ohne Rücksicht auf das Image der „Tagesschau“ machen kann, was und wie es sie will.

Das ist eine schlechte Nachricht für die ARD, der ein Gesicht wie das von Zervakis auch im Programm jenseits der „Tagesschau“ gut getan hätte, und die wahrscheinlich schlicht nicht damit gerechnet hat, dass die Sprecherin ihr jemals abhandenkommen könnte. Und das ist eine mittelgute Nachricht für Barbara Schöneberger, die in den vergangenen Jahren einfach alles moderiert hat, was es an großen Shows und TV-Ereignissen in Deutschland zu moderieren gab: Es gibt eine neue Konkurrentin …