Der neue „Tatort“ aus Münster spielt in einem Sanatorium. Das „Haus am Schwanensee“ kommt für Boerne völlig ungelegen.

Der Morgen geht schon mal gar nicht gut los. Das Brot ist schimmelig, der Bäcker hat wegen Umbau geschlossen. Kommissar Thiel hängt der Magen in den Kniekehlen. „Und dann rufen Sie auch noch an“, jammert er in Richtung Assistentin Nadeshda Krusen­stern. Ein bisschen wehleidig ist er seit je gewesen, der Kommissar mit dem Teddybären-Gesicht und dem unvermeidlichen St.-Pauli-Trikot über dem Bauchansatz. Frank Thiel, gespielt von Axel Prahl, nimmt das Leben und den Tod persönlich, in jeder Hinsicht.

Nun kniet er neben der Leiche einer jungen Frau, die im Schwimmbad eines Therapiezentrums tot aufgefunden wurde. Wie sich herausstellt, hat Mona Lux, Typ Rätselschönheit, sich selbst zur Behandlung eingeliefert. Sie hat keine Freunde, keine Familie, keine feste Adresse. Auf ihrem Zimmer befindet sich einzig ein verschlüsselter Laptop. Bevor er zur Befragung der Patienten schreitet, futtert Kommissar Thiel seiner Assistentin erstmal das Schinkenbrötchen weg. Auf leeren Magen ermittelt es sich eben nicht gut.

Treffen sich ein Zwangsneurotiker, eine Schizophrene, ein Autist und ein Zwillingsbrüderpaar...

Mit dem „Haus Schwanensee“, einem Sanatorium für Besserverdiener, hat dieser „Tatort“ eine hübsche Kulisse gefunden. Direkt am See gelegen, über dem sich der Nebel zu dramatischen Formationen zusammenzieht, wirkt die in Stahl und zartgrauen Farben gehaltene Einrichtung wie aus dem „Schöner-Wohnen“-Katalog. Wären da nicht die Bewohner („Wir sprechen nicht von Patienten“, erklärt der Klinikleiter), niemand käme auf die Idee, dass hier die dunklen Seiten des Lebens zu Hause sind. Es versammeln sich im „Haus Schwanensee“: ein Zwangsneurotiker, eine Schizophrene, ein Autist und ein Zwillingsbrüderpaar mit nicht genauer definierter Auffälligkeit.

Der „Tatort“ von Regisseur André Erkau, der einst in Hamburg eine Schauspielausbildung absolvierte, will natürlich kein realistisches Bild der verschiedenen Erkrankungen zeichnen. Die Szenen im Sanatorium sind bewusst überhöht inszeniert. Der Zuschauer fühlt sich, als sei er hineingerutscht in eine pop-beduselte Krankenhaus-Soap um Liebe und Herzschmerz.

Und Professor Karl-Friedrich Boerne? Der ist eigentlich bereits mit einem Bein im Urlaub („Nicht Malle! Malediven!“). Urlaub fällt für Boerne in dieselbe Kategorie wie Gruppenausflüge und Fahrradtouren – hübsch für andere, für den Rechtsmediziner, der alles (besser) kann und weiß, ein indiskutables Unterfangen. Jan Josef Liefers dreht wieder gekonnt auf zwischen Trockenübungen im Taucheranzug und Taxifahrten mit Sauerstoffflasche und 16-teiligem Hartschalen-Kofferset. Denn immerhin hat Boerne Kurs genommen auf den Flughafen – ist allerdings in letzter Sekunde umgeschwenkt, um sich in der Rechtsmedizin dem Mageninhalt und Blutbild der Toten zu widmen. Erholung, das ist für den Medizinstreber eine Übersicht aus Zahlen und Grafiken, die er für die „Forensical Review“ interpretieren kann. Oder eben für die minderbemittelten Kollegen.

Ein Selbstmord von Mona Lux scheint ausgeschlossen. Weshalb Boerne auch gleich ins Kommissariat eilt, um seine Hilfe aufzudrängen. Wie bei dem ungleichen Duo aus Münster üblich, gibt es haufenweise Kompetenzgerangel bei den Ermittlungen, was diesen „Tatorten“ ihre charakteristische Schieflage verleiht. Thiels Einsatz besteht vornehmlich darin, sämtliche Arbeit an seine Assistentin zu delegieren. Die Aufforderung „Recherchieren Sie mal!“ klingt aus seinem Mund wie ein leicht unappetitliches Hobby. Börne dagegen hält sich an die bewährte Taktik „Links blinken, rechts abbiegen“ und zaubert eine Theorie nach der anderen aus seinem Kaschmirmantel.

Am Sonntag läuft im Übrigen zweimal der Münster-Tatort

Dass in den Krimifällen aus Münster niemals stringent ermittelt wird, ist längst Teil des Erfolgskonzepts. In den „Tatort: Schwanensee“ passen ohne dramaturgische Probleme Steuerfahndung und Psychiatrie, Liebeskummer und Undercover, Computerhacker und Gigolo. Und natürlich Vadder Thiel, der die Münsteraner Gesellschaft mit seinem Taxi durch die Stadt kutschiert, pöbelnde Sprüche inklusive.

Der November scheint der Monat für die Quoten-Rampensäue unter den ARD-Kommissaren zu sein. An diesem Sonntag das Zuschauerfavoriten-Doppel aus Münster, gefolgt von Til Schweigers Kommissar Tschiller, der gleich an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen aufschlägt. Man darf durchaus auf Zuschauerrekorde wetten.

Für den entscheidenden Vorstoß im Fall „Schwanensee“ sorgt schließlich Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann), die ihre Kontakte beim BKA spielen lässt und „Thielchen“, wie sie den Kollegen halb zärtlich, halb mitleidig nennt, Richtung Lösung schubst. Überhaupt besticht auch dieser Fall aus Münster wieder durch sehenswerte Einzelauftritte, allen voran Robert Gwisdek als klügster Kopf der Münsteraner Steuerfahndung sowie Friederike Kempter als Assistentin Krusenstern, die es mit ihren Chefs ja auch nicht immer leicht hat. Aber wer Hunger leidet, dem muss man eben so manches nachsehen.

„Tatort: Schwanensee“, So 20.15 Uhr, ARD