Hamburg. Im ZDF-Talk teilte St. Paulis Trainer gegen korrupte Sportfunktionäre und Befürworter des Personenkults aus. Das Netz ist begeistert.
Der Einstieg mit Witzchen hier und da über seine Herrenhandtasche war trivial, doch am Ende redete sich Ewald Lienen am Mittwochabend bei Markus Lanz regelrecht in Rage. Anlass war die Diskussion in der ZDF-Talkrunde über den Fifa-Skandal und Korruptionsvorwürfe rund um die deutsche WM 2006, in die sich der Trainer des Fußball-Zweitligisten FC St. Pauli energisch einbrachte.
Vor allem die "staatlich anerkannte Autonomie des Sports", wie sie mit "SZ"-Journalist Thomas Kistner ein weiterer Talkgast benannte, nahm Lienen verbal auseinander. "Wenn ich Blödsinn gemacht habe, sage ich dann: Tut mir leid, ich hab den Laden überfallen, aber wir haben eine familieninterne Untersuchungskommission eingerichtet, mal sehen, was dabei rauskommt, es ist noch nicht ganz sicher? Ist doch lächerlich!", sagte der 61-Jährige im Hinblick auf die von der Fifa eingesetzte Ethikkommission.
"Das ist der Kernpunkt", pflichtete Kistner Lienen bei. Und auch bei weiten Teilen des TV-Publikums (1,92 Millionen Zuschauer/16,4 Prozent Marktanteil) kam St. Paulis Chefcoach gut an, wovon etliche Kommentare in den sozialen Netzwerken zeugen. "Bravo! Herr Lienen! Der Mann hat Übersicht und ist absolut frei von Naivität", lautete nur einer von zahlreichen positiven Tweets. "Der Lienen bringts auf den Punkt! Alles Sauhaufen egal ob Fifa oder IOC", kommentierte ein anderer.
Den größten Applaus vom Studiopublikum erhielt Lienen allerdings für den Kuschelkurs, den er nach seiner Manöverkritik schließlich doch noch mit folgender Aussage einschlug: "Eine Sache sollte man mal klarstellen: Egal, wie das jetzt zustande gekommen ist: Diese WM, wie sie hier in Deutschland stattgefunden hat, ist eine der schönsten Veranstaltungen gewesen, die ich je erlebt habe."
Das sagte Ewald Lienen...
...über den freiwilligen Verzicht von St. Pauli auf 2,5 Millionen Euro Marketingeinnahmen: "Stadionname nicht, Produkte nicht. Natürlich kann es auch anders gehen, das ist völlig richtig. Für mich ist das ein weltweites Phänomen, das nicht nur im Sport existiert, sondern überall und nirgendwo, wo Aufträge zu vergeben sind. Immer da, wo es um viel Geld geht, wenn Fernsehrechte zu vergeben sind. Es ist doch egal, um was es geht. Ich bin fest davon überzeugt, dass Leute überall die Hand aufhalten, damit Entscheidungen in eine Richtung gehen, die man möchte, weil es um so viel Geld geht. Keine Ahnung, wie man es hinkriegen kann, dass man Dinge so verändert, damit das nicht mehr möglich ist. Aber bei vielen Dingen ist das nicht möglich."
...über mögliche Korruption bei der WM-Vergabe 2006: "Wenn es so wäre, würde mich das Nullkommanull überraschen. Korruption ist so alt wie die Menschheit. Ich bin in drei, vier Ländern unterwegs gewesen und habe dort auch gearbeitet. Was ich dort immer gehört habe, war: 'Bei euch in Deutschland läuft das alles so super und so toll organisiert.' Griechenland und Rumänien zuletzt: 'Bei uns gibt es Korruption, da wird geschmiert.' Da habe ich denen gesagt: 'Leute, vergesst das! Hier wird genauso viel geschmiert und genauso viel korruptes Zeug gemacht. Nur, in diesen Ländern weiß es jeder. Wenn ich ein Grundstück bebauen will, muss ich dem Typen, der da sitzt beim Katasteramt was in die Hand drücken. Bei uns passiert es eben hinter dem Rücken und wir tun so, als wenn wir die sauberste Nation der Welt wären. Wenn Aufträge in der Industrie vergeben werden, das wissen wir doch alle, es gibt Millionen Möglichkeiten dafür, und immer wieder bekommen wir das mit, dass es hier genauso ist. Aber wir sind alle beruhigt, weil die Fifa es ja längst untersucht."
...über die Autonomie der Fifa: "Die Sportwelt, ob das Fifa oder das Internationale Olympische Komitee ist, bilden eine Organisation außerhalb der Gesellschaft. Die machen, was sie wollen. Wenn sie eine Olympiade veranstalten oder eine Fußball-Weltmeisterschaft veranstalten, dann werden die Gesetze des Landes außer Kraft gesetzt. Das haben wir ja in Brasilien wieder gesehen, das kennen wir ja. Das ist für mich ein Thema, was für mich nicht nachzuvollziehen ist. Und dann kommt noch dazu, dass sie auch eigene Kommissionen bilden wie jetzt die Ethikkommission oder wie die DFB-Gerichtsbarkeit. Das gibt es nirgendwo auf der ganzen Welt. Das gibt es nur im Sport, dass sie sich dann selber untersuchen. Ich kann es nicht nachvollziehen. Wenn im normalen Leben Blödsinn gemacht wurde, wie kann ich dann noch zuschauen, wie sich solche Organisationen dann auch noch selbst untersuchen - in einer Ethikkomission. Es ist albern. (...) Diese Autonomie hat dazu geführt, dass es am Ende des Tages zu dieser Korruption gekommen ist."
...über die WM in Brasilien: "Da leben Millionen Menschen, die davon existieren, dass sie um ein Stadion herum das ganze Zeug verkaufen. Durch diese Autonomie dürfen die die Gesetze außer Kraft setzen, die Leute dürfen dort nichts mehr verkaufen, es gibt nur noch die multinationalen Konzerne, die sich da einkaufen und Sponsoren, die diese WM vermarkten. Die kleinen Leute auf der Straße sind außen vor. Und nur weil dort Millionenbeträge zu verdienen sind, kommt es überhaupt zu der Korruption, weil diejenigen, die die WM vergeben, natürlich von den Leuten dann entsprechend geschmiert werden. Punkt."
...über den Personenkult im Fußball: "Personenkult ist nicht etwas, wenn man einem Spieler oder Trainer zujubelt, sondern, wenn man Personen nicht als normale Menschen behandelt. (...) Der ganze Autogramm-Hype ist für mich Personenkult, der albern ist." Den Autogrammjägern, die er als Profi hat abblitzen lassen, habe dies nicht geschadet, berichtete Lienen. Passionierten Autogrammjägern lasse er hingegen heimlich seine Unterschrift zukommen, gestand er ebenso wie dies hier: "Ich habe gefühlt schon mit 80 Prozent aller St. Pauli-Fans ein Selfie gemacht." Letztendlich störe Lienen der Umstand, dass Kindern über den Personenkult vermittelt werde, "dass Leute, die bekannt sind, wertvoller sind als andere Menschen".
...über Jürgen Klopp: "Jürgen ist ein sehr kommunikativer Typ, der sehr lustige Sprüche hat. Das gefällt den Journalisten, dass man auch mal ein bisschen lockerer sprechen kann."