Die NDR-Dokumentation „Grenzflieger“ zeigt, was 1970 mit Piloten passieren konnte, die versehentlich in den DDR-Luftraum von Mecklenburg-Vorpommern eindrangen. Grenzprovokation im Luftraum.

Wenn ein Segelflieger über Norddeutschland vom Kurs abkommt und irgendwo entlangfliegt, wo er nichts verloren hat, dann ist das heutzutage allenfalls für die Flugsicherung von Interesse, nicht aber für Dokumentarfilmer. Anders sieht das aus, wenn man die Uhr zurückdreht ins Jahr 1970, genauer gesagt auf den 13. August jenen Jahres.

In der DDR beging die Staatsführung den neunten Jahrestag des Mauerbaus. Und Gerhard Littmann startete vom Flugplatz Lübeck-Blankensee zu einem spontan anberaumten Segelflug. Karten hatte er keine dabei und der Kompass seines Fliegers hatte dummerweise auch einen Defekt. Und auf einmal befand sich Littmann nicht mehr über Schleswig-Holstein, sondern über Mecklenburg-Vorpommern. Eine „Grenzprovokation im Luftraum“, wie Waldemar Seifert, Generalleutnant a.D. der NVA, es noch heute nennt. Und die hatte Folgen für Littmann.

Folgen, die aus heutiger Perspektive lächerlich erscheinen könnten, wären sie für den Segelflieger auf Abwegen nicht dermaßen bitter gewesen. Littmann wurde von einem Flugzeug zur Landung gedrängt und setzte unmittelbar neben einer Radarstation in der Nähe von Schwerin auf. Keine gute Idee, wie sich später herausstellte. Denn für die DDR-Behörden erhöhte der Landeplatz nur die Gewissheit, es mit einem Spion zu tun zu haben.

Ein Kampfflieger der Roten Armee kreiste um die Cessna

Littmann wurde in die Ostberliner Stasi-Zentrale gebracht und verhört. Dass er während dieser Gespräche darauf bestand, die DDR als „Terrorregime“ zu bezeichnen, und sich weigerte, seinen Flugfehler als Straftat anzuerkennen, nahm die Staatssicherheit ebenfalls nicht gerade für ihn ein: Er wurde, nach Verhören, nach wochenlanger Einzelhaft und einem Prozess des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt.

Etwas glimpflicher, wohl auch nicht zuletzt deshalb, weil die Medien von vornherein viel über den Fall berichteten, war ein weiterer versehentlicher Flug in die DDR einige Monate zuvor ausgegangen: Von Lüneburg aus startete am 10. April ein sogenannter Keuchhustenflug mit fünf Kindern an Bord, dazu dem Vater beziehungsweise Onkel der Erkrankten und dem Piloten.

Die Höhenluft sollte den Kindern Erleichterung verschaffen und der Heilung Vorschub leisten. Stattdessen kam auch dieser Flug vom Weg ab, und auch dieses Mal wurde die Landung erzwungen: Jedoch nicht von einer kleinen Motormaschine wie im Fall Littmann. Stattdessen kreiste ein Kampfflieger der Roten Armee um die Cessna, feuerte Warnschüsse ab und zwang sie zur Landung auf einem Feld. Während die Kinder bereits nach anderthalb Tagen wieder ausreisen durften, wurden die beiden Erwachsenen mehr als zwei Wochen lang festgehalten.

Die NDR-Doku rollt zwei Fälle auf

Die NDR-Doku „Grenzflieger“ aus der Reihe „Unsere Geschichte“ rollt zwei Fälle auf, deren Anlässe aus heutiger Sicht als Bagatellen erscheinen. Die aber sowohl die DDR-Führung wie die Regierung der BRD beschäftigten: Egon Bahr war mit dem Fall Littmann befasst und der damalige Innenminister Genscher mit den Keuchhustenfliegern. Littmann kam nach mehreren Monaten in Haft gegen Zahlung von 60.000 D-Mark frei. Der ehemalige Staatssekretär für innerdeutsche Beziehungen Ludwig Rehlinger sträubte sich gegen die Beschreibung dieser Vorgehensweise als „Menschenhandel“: Wir haben nicht mit Menschen gehandelt, wir haben Menschen, die aus unserer Sicht unschuldig in Haft saßen, gegen materielle Leistungen freigekauft.“

Auch, wenn die 45 Minuten lange Dokumentation von Anne Kathrin Thüringer und Hans-Jürgen Büsch mit optisch einfachen Mitteln arbeitet; sie wird von den Geschichten getragen, die die unversehens der Spionage Verdächtigten erzählen. Anekdoten wie die, dass Egon Bahr dem Aero-Club Lübeck anbot, die Kosten für ein neues Flugzeug zu übernehmen, wenn die Segelflieger sich nicht an die Presse wenden würden, zeigen, wie instabil die Lage war, damals, als der Himmel über Deutschland geteilt war.

„Unsere Geschichte – Grenzflieger“, Mi 21.00 Uhr, NDR