Für eine Reportage bettelte die „Tagesschau“-Sprecherin Judith Rakers um Kleingeld, stand in Suppenküchen an und übernachtete mit Obdachlosen unter einer Brücke.

Hamburg Eine Geschichte über Obdachlose. Beliebtes Thema für Bewerbungsreportagen an Journalistenschulen. Ein wichtiges, berührendes Thema, aufgrund seines Betroffenheits-Charismas immer relevant. Aber kein Thema, das vor Kreativität sprüht und bei dem man glaubt, noch etwas komplett Neues erfahren zu können. Denken viele.

Judith Rakers denkt anders. Die ARD-Moderatorin und „Tagesschau“-Sprecherin hat sich sehr bewusst dafür entschieden, obdachlose Menschen, insbesondere Frauen, und die damit verbundenen Schicksale und Lebensgeschichten in den Mittelpunkt ihrer Reportage „Schicksal obdachlos“ zu stellen. Rakers begibt sich mit dem Format auf altes und neues Terrain zugleich. Bereits als Studentin und vor ihrer Karriere als Moderatorin und Sprecherin hat die Journalistin aus Paderborn eigene Filme für „Focus TV“ gemacht. In den vergangenen Jahren jedoch arbeitete sie fast ausschließlich vor der Kamera. „Unser Programmdirektor Frank Beckmann hat mich in einem Perspektivgespräch gefragt, was ich gerne machen würde, wenn ich freie Hand hätte“, erzählt die 37-Jährige. Ihr Wunsch: „Ich möchte Reportagen drehen, Ausschnitte aus dem Alltag zeigen.“

So kam es, dass sie sich im Februar diesen Jahres mit Autorin Caroline Pellmann und einer Kamerafrau für 30 Stunden auf die Straßen Hamburgs begab, um anzufühlen, was es heißt, ohne Wohnung, ohne Geld und ohne Schutz vor Kälte, Kriminalität und Hoffnungslosigkeit zu sein.

„Ich wollte auf Augenhöhe kommen“

Ausgerüstet mit den Leitfragen: Warum landen Menschen auf der Straße? Wie kommen vor allem obdachlose Frauen zurecht? Wovor haben sie Angst? startete Rakers ihren Selbstversuch. „Ich wollte auf Augenhöhe kommen“, sagt sie. Nicht als die gut aussehende, gepflegte und eloquente Medienfrau, sondern als authentischer Teil dieser Welt da unten, um eben nicht nur von oben drauf zu schauen. Eine Herausforderung, vielleicht sogar ein Drahtseilakt, weil man Judith Rakers in dieser Rolle bislang nicht kennt. Für die Reportage geht Rakers in die Kleiderkammer, tauscht ihr Jacket, Tasche, Handy und Autoschlüssel gegen Wollpullis, Winterjacke, Isomatte und Zahnbürste. Das Make-up wird entfernt – Judith Rakers, blass und pur. Die 30 Stunden können starten. Judith Rakers wird dabei gefilmt, wie sie am Hauptbahnhof in Mülleimern wühlt und Burgerreste sucht. Wie sie in einem Imbiss um ein Brötchen bettelt und leer ausgeht. Wie sie sich schließlich in der Spitalerstraße direkt an Passanten wendet und bettelt. Sie wird nicht erkannt. Sie wird nicht beachtet. Sie wird ignoriert. Nach Stunden schenken ihr zwei junge Frauen 3,50 Euro. „Ich war dafür so dankbar, dass mir die Tränen kamen“, erinnert sich Rakers. Sie merkt: „Luft für andere zu sein, in einer Situation in der man Hilfe braucht, ist das Schlimmste.“

In der Alimaus, der Armenspeisung in Altona, trifft Rakers nach sieben Stunden die 46-jährige Alex. Eine Frau, die nach Scheidung und Suchtkrankheit so aus der Bahn geworfen wurde, dass die Abwärtsspirale sie irgendwann direkt auf die Straße schleuderte. So ist es bei vielen. Judith Rakers kennt solche Geschichten zuhauf, denn seit mehreren Jahren engagiert sie sich aktiv für das Hamburger Straßenmagazin „Hinz&Kunzt“.

„Selber zu erfahren, wie das Leben auf der Straße sich anfühlt, ist etwas völlig anderes“, sagt sie. Alex ist plötzlich ihr Rettungsanker in der unbekannten Welt. „Ich hatte nicht das Gefühl auf Augenhöhe zu kommen, sondern war plötzlich vielmehr diejenige, der geholfen werden musste“, sagt Judith Rakers. Übernachten wollte sie für die Reportage ursprünglich im Frauenzimmer, einer Notunterkunft für bedürftige Frauen. Doch das angemeldete Bett wird kurzfristig für echte Notfälle benötigt. Judith Rakers, die nach elf Stunden auf der Straße erschöpft und müde wirkt, muss umplanen und nächtigt auf der Straße. Es wird eine lange und laute und kalte Nacht unter der Kersten-Miles-Brücke in der Neustadt. Es herrschen Minusgrade. Hilfe bekommt Rakers wieder von anderen Obdachlosen, die Matratzen und Alkohol mit ihr teilen und etwas von dem abgeben, was auf der Straße ein hohes, überlebenswichtiges Gut ist: Wärme und Menschlichkeit. „Wenn ich hier eine Woche leben müsste, würde ich morgens auch schon ein Bier trinken, damit einem alles ein bisschen egal wird“, entfährt es der Journalistin. Sie lernt, dass gerade Frauen auf der Straße vielen, nicht selten sexuellen, Übergriffen ausgesetzt sind.

Kurz vor Ablauf der 30 Stunden ist Rakers am Ende ihrer Kräfte, hat mit dem Verkauf von einem „Hinz& Kunzt“-Exemplar 1,10 Euro verdient. Das Fazit der Journalistin: „Es war krass, hart, unvergesslich – mit wunderschönen Momenten.“ Die 30-minütige Reportage „Schicksal obdachlos“ wirkt durch ihre unaufgeregte Intensität. Sie zeigt eine neue Facette des Lebens der Obdachlosen auf Hamburger Straßen. Und eine andere Facette der Medienfrau Judith Rakers.

„Schicksal obdachlos“ anlässlich der

Spendenaktion „Hand in Hand für Norddeutschland“ am 6. Dezember, 21.15 Uhr im NDR

Judith Rakers ist heute auch Gast in der Talkshow „Beckmann“ zum Thema „Obdachlos – Leben auf der Straße“, 22.45 Uhr, ARD