Dass Mobbing im neuen Medienzeitalter besonders erbarmungslos sein kann, besprachen die Gäste bei Anne Will im Anschluss an den Film “Homevideo“.
Hamburg. "Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." Würde sich die Gesellschaft angesichts eines der ältesten zwischenmenschlichen Phänomene geschlossen dem Gebot aus Römerbrief 2.1 unterwerfen - die Anzahl der Steinwürfe dürfte gegen Null tendieren. Dass die Wahrheit in Bezug auf Mobbing vermutlich eine andere ist, darüber diskutierte am Mittwoch die Runde bei ARD-Talkerin Anne Will.
Dabei machte das Erste am Abend mit dem Delikt Internet-Mobbing eine bislang öffentlich wenig beachtete Form von Verleumdungen und Nachrede zum Thema - erst zur besten Sendezeit im eindringlich inszenierten Fernsehfilm "Homevideo", dann in der anschließenden Diskussion bei Anne Will. So dicht der Fall des bloßgestellten Hamburger Schülers Jakob im preisgekrönten "Homevideo" geschildert wurde, so konstruktiv erörterte die Experten-Runde die Auswüchse digitaler Hänseleien.
Geladen hatte Will neben den Experten Michael Winterhoff (Jugendpsychiater und Autor), dem Lehrer und Mobbing-Experten Wolfgang Kindler, Anke Domscheit-Berg (Ex-Microsoft-Managerin und Aktivistin für freies Internet) und Medienanwalt Christian Schertz ein durchaus prominentes Mobbing-Opfer. Wirtschaftsstudentin Lisa Loch, als 16-Jährige einst den öffentlichen Hänseleien von Entertainer Stefan Raab ausgeliefert ("TV Total"), kam dem fiktiven Fall aus "Homevideo" ziemlich nahe. Auch wenn sich die 26-Jährige mit Anwaltshilfe wegen "massivster Demütigung und Beleidigung" von der Produktionsfirma 70.000 Euro Schmerzensgeld erstritt - und nicht, wie im Film geschildert, zum Äußersten greifen musste. Schließlich endete der Spießrutenlauf in "Homevideo" für Schüler Jakob am Elbstrand, mit der Dienstwaffe seines Vaters an der Schläfe.
Mutter von Mobbing-Opfer: "Was ist das Leben unserer Kinder wert?"
Die Schlussszene des in Hamburg abgedrehten Fernsehfilmes ließ die Münder der jugendlichen Zuschauer aus dem Gymnasium von Lehrer Kindler in Recklinghausen offen stehen, wie in einem Einspieler bei Anne Will gezeigt wurde. Im Studio selbst herrschte betretenes Schweigen, als Will Michaela Horn ihr Ohr lieh. Die vierfache Mutter schilderte, wie sich ihr jüngster, erst 13 Jahre alter Sohn als Folge andauerndern Mobbings über das soziale Netzwerk Facebook das Leben nahm. Konsequenzen forderte die Mutter deshalb vor allem von der Politik, aber auch von der Internetwirtschaft. "Was ist das Leben unserer Kinder wert? Ich frage mich, ist das finanzielle Interesse wichtiger, als unsere Kinder zu schützen?", fragte der Studiogast auch angesichts standardisierter Voreinstellungen im Privatbereich sozialer Netzwerke.
Wenig Hoffnung auf ein Umdenken bei Netzwerk-Anbietern hegt Anwalt Schertz, der stattdessen für eine Selbstkontrolle bei den Anwendern plädierte: "Wenn die Sachen erstmal im Netz sind, haben wir keine Möglichkeit mehr, diesen Tsunami für diesen Menschen zu verhindern. Das Ding ist draußen." Dass Kinder und Jugendliche mit zwölf, 13 Jahren einen Facebook-Account hätten, müsse ohnehin als normativ faktisch akzeptiert werden. Schertz' Appell an die Jugend: "Überlegt genau, was ihr von Euch preisgebt im Internet - Ihr kriegt dieses Material nie mehr zurück!"
Dieser Umstand scheint auch der liberalen Internet-Userin Domscheit-Berg bewusst, deren elfjähriger Sohn sich auch deshalb noch nicht in sozialen Netzwerken tummeln darf. Die Mutter selbst gestand jedoch ein, Mitglied bei Facebook und dort mit Freunden ihres Sohne befreundet zu sein. Deren Aufklärung über private Verschlüsselung der Profile müsse sie freilich noch vorantreiben, bekannte Domscheit-Berg.
Umfrage: Mehr als jeder dritte Jugendliche Opfer von Mobbing
Dass Anne Will und die ARD mit dem Themenabend Cyber-Mobbing in ein Wespennest stießen, macht auch eine Umfrage von Forsa im Auftrag der Techniker Krankenkasse deutlich. Demanch ist bereits jeder dritte Jugendliche Opfer von Mobbing über digitale Medien geworden. Mehr als 70 Prozent der befragten Jugendlichen kennen jemanden aus ihrer Altersgruppe, der schon einmal im Internet gemobbt wurde.
Was sowohl "Homevideo" als auch die Will-Runde deutlich machten: Eltern stehen oftmals vor einem Rätsel, sobald ihre Kinder von Mobbing via Internet betroffen sind. Vielen Erziehungsberechtigten mangelt es offenkundig an ausreichender Cyber-Kompetenz, um mit ihren Sprösslingen mithalten zu können. In einem weiteren Einspieler aus der Anti-Mobbing-AG von Lehrer Kindler wurde gezeigt, wie sich diejenigen Schüler melden sollten, deren Eltern sich besser mit dem Internet auskennen als sie selbst. Alle Arme blieben unten.
Ist die Lawine aus Hänseleien, Nachrede und Rufmord erst einmal losgetreten, bleibt den Opfern oftmals kaum ein Ausweg aus dem Mobbing 3.0. Das Dilemma der "Unvergesslichkeit des Internets" schwächte allerdings ausgerechnet Mobbing-Experte Kindler ab. Durch immer neue Inhalte gingen auch im weltweiten Netz irgendwann einmal kompromittierende Aktionen unter, so die These des Lehrers. Allerdings: Täter und Opfer müssten auch bereit sein, zu vergessen. Im Fall des fiktiven Jakob, dessen Selbstbefriedigungsvideo auf etliche Handys wanderte - auch auf die von Schülern seiner neu ausgesuchten Schule -, gelang dies nicht. Auch, weil es dem Mobber an Empathie fehlte - ein Hauptmerkmal vieler jugendlicher Täter, wie Psychiater Winterhoff anmerkte. "Ich habe Jugendliche, die können Zusammenhänge nicht erkennen. Die können nicht denken, wenn ich das mache, passiert das", sagte Winterhoff. "Die machen Mist, bekommen Ärger, und ärgern sich dann, dass sie Ärger haben, weil sie es nicht verstehen."
Dem Ärger abgeholfen hat im realen Leben Lisa Loch, die zehn Jahre nach dem medialen Breittreten eines nur Sekunden andauernden Fernsehspots durch den gewonnen Rechtsstreit gegen die Produktionsfirma von Stefan Raab ihren Frieden gefunden zu haben scheint. "Am meisten geholfen hat mir, als wir juristisch dagegen vorgegangen sind, als mir jemand zugehört hat, und dass das von außen bewertet und kritisiert wird, was er gemacht hat. Das war mir sehr wichtig."
Die ARD-Debatte förderte letztlich dreierlei Erkenntnisse zutage: Will die Gesellschaft künftig Herr werden über moderne Formen des Mobbings, bedarf es vor allem der Prophylaxe, bestehend zum einen aus frühstmöglicher Schulung medialer Kompetenzen, zum anderen aus der Förderung allgemeiner Zivilcourage. Und politisch muss der Spagat gemeistert werden aus Vorratsdatenspeicherung und Wahrung der Anonymität.