Unglaubliche 9,75 Millionen Zuschauer verfolgten zuletzt das Schicksal der jungen Marie. Sat.1 reagierte und drehte prompt eine Fortsetzung.

Unglaubliche 9,75 Millionen Zuschauer verfolgten im Oktober 2010 auf SAT.1 das libidozentrierte Schicksal der jungen Marie (gespielt von Alexandra Neldel), die im Konstanz des 15. Jahrhunderts nach einer Intrige gefoltert, vergewaltigt, verbannt und schließlich von einer Gruppe Wanderhuren aufgenommen wird. Der Sender reagierte schnell: Die Fortsetzung „Die Rache der Wanderhure“ wird heute Abend als "TV-Event“ ausgestrahlt.

Ein Ereignis, das muss man zugestehen, ist dieses Machwerk allerdings – nähert es sich doch den Torturen seiner Heldin in der Unerträglichkeit für den Zuschauer an, und zwar auf allen Ebenen der medialen Rezeption. Eingeläutet wird es schon durch seinen Titel, der auf meisterhafte Weise in die Irre (ver-)führt, denn dieser Film erzählt weder von einer Wanderhure – Marie hat sich längst aus dieser Schmach rehabilitiert – noch von Rache. Könnte man die fälschliche Bezeichnung ihres Gewerbes noch mit einer Art mediävalem Etikettierungsansatz interpretieren, wird der Zuschauer auf ein frauengelenktes Gemetzel in Tarantino-Ästhetik vergebens warten, auch wenn eines der pathetischen Werbefotos unverhohlen das Plakat zum Film „Kill Bill – Volume 2“ nachzuahmen scheint.

Tatsächlich beschränkt sich auch das Lasziv-Anrüchige des Films auf die völlig unnötigen Schlitze in Maries wallenden Röcken. Dazu gesellt sich der beharrlich proletarisch-stumpfe Charme von Alexandra Neldel, der in seiner Derbheit weder zur Stärke, noch zur Anmut der Rolle passen will, die sie verkörpern soll. Und anstatt eines Rachefeldzugs findet sie sich bald auf der rührselig-strapaziösen Suche nach ihrem Mann Michel, einem dümmlichen Schönling. Aus der glücklichen Ehe wird „Die Kastellanin“, so der Name der Buchvorlage vom Autorenehepaar Iny Lorentz, durch den Krieg gerissen, der die Kunde vom Tode Michels bringt. Doch der Macht ihrer Liebe sei Dank weiß Marie, dass er noch leben muss. Sie bekommt vom König zehn Tage Zeit, ihn zu finden, bevor sie nach geltendem Recht wiederverheiratet wird. Als wäre der Zeitdruck nicht unerfreulich genug, ist ihr auch noch der ominöse Großinquisitor des Papstes auf den Fersen.

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Neben dieser kruden Story erlebt der Zuschauer ein künstlerisches Versagen in den dunkelsten Farben des Mittelalters, wobei die schummrigste Düsterkeit in der ernüchternd marginalen schauspielerische Leistung der Darsteller liegt. Die Figuren, deren Persönlichkeiten über einen ähnlich komplexen kompositorischen Aufbau verfügen wie das bekannte „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch, staksen durch extrem unrealistische Handlungsverläufe, während die Dialoge jedes Phrasenschwein zum Glühen bringen würden, die Filmmusik einem PC-Spiel der frühen 2000er Jahre entnommen sein könnte und die Kostüme in Teilen an Faschingsware von eBay erinnern. Fast selbstironisch anmutend sind szenische Kniffe wie eine nahezu disneyeske Gesangsszene, die dann tatsächlich auch gemäß ihrer Tradition funktioniert, oder Maries Mimikry in Form eines Männergewandes, das sie – Überraschung – natürlich nicht mehr als Frau erkennbar sein lässt. Oft stellt sich dem Zuschauer die Frage, ob man ihn hier für dumm verkaufen oder zum Lachen ermutigen möchte.

Vielleicht aber ist dieser Fernsehfilm in Wahrheit auch als eine Art postmodernes Suchspiel auf dem Flickenteppich von mehr oder weniger bewusst eingesetzten Filmzitaten geplant, die es vom cineastisch geschulten Zuschauer zu entdecken gilt. So fühlt man sich vom Bild der unter einer Anhöhe vor einem böswilligen Reiter versteckten Neldel unwillkürlich an Peter Jacksons „Der Herr der Ringe“ erinnert, welcher diesen Szenenaufbau seinerseits von Ralph Bakshi übernahm. Und wenn die Wanderhure, die keine Wanderhure ist, angesichts einer drohenden Vergewaltigung darüber doziert, dass es über ihren bloßen Körper hinaus keine Vereinnahmungsmöglichkeit gäbe, dürfte zumindest der Mel Brooks-Fan aus der Paralyse erwachen. Wohlgemerkt ist es eine Robin Hood-Parodie, aus der dieses Zitat nachhallt.

Als klischeehafte Versatzstücke wirken auch Marat, der Mongole oder der minderwüchsige Gaukler Nepomuk. Und besitzt Marie von Hohenstein schon nicht die Coolness einer Beatrix Kiddo, wird ihrem Holzschnitt von Mann zumindest ein Quoten-Asiate auf den Weg gegeben, der ihm innerhalb von einem Tag seine exotische Kampfkunst beibringt und voll in seiner Rolle als sprachfaulem Lehrmeister aus Fernost aufgeht.

Mit einer gehörigen Distanz zum Dargestellten kann man dieses filmische Greuel also als referenzreiche Groteske begreifen. Demonstrative Ignoranz kommt ohnehin zu spät: Die Produktion eines dritten Teils ist bereits bekanntgegeben. Vielleicht findet sich dort ja die Wanderhure, die man vermisst.