New York. „Ich weiß das Leben heute mehr zu schätzen als vor 20 Jahren“, sagt die Entertainerin – die sich in Deutschland „krass“ behandelt sieht.

Deutschland hat nur wenige Weltstars. Auf die sollte man eigentlich stolz sein. Aber damit hatte das Land immer Probleme. Ob das Marlene Dietrich oder Hildegard Knef war. So war es auch bei Ute Lemper. Überall auf der Welt wurde sie gefeiert: als Musicalstar, als Showstar, als Chanson-Interpretin. Nur in ihrer Heimat gab es Häme, in Berlin vor allem beim „Blauen Engel“ 1992 am Theater des Westens. 1998 zog sie mit ihrer Familie in die USA.

Am 4. Juli wird die gebürtige Münsteranerin nun 60 Jahre alt. Gerade ist ihre Autobiografie, „Die Zeitreisende“ erschienen – bemerkenswert, da sie vor genau 30 Jahren schon einmal eine vorlegte, „Unzensiert“, und die nun auch im neuen Buch Revue passieren lässt. Wir haben Ute Lemper dazu per Zoom-Konferenz in New York befragt.

Ute Lemper wird 60: „Meine innere Flamme ist alterslos“

Hamburger Abendblatt: Sie werden im Juli 60. Ist das ein besonderes Datum, macht das was mit Ihnen?

Ute Lemper: Da mein Verlag mich vor einem Jahr angesprochen hat, ein Buch zum 60. zu schreiben, habe ich mich ja schon länger damit befasst. Aber nein, die 60 ist nur eine Zahl. Davor habe ich keine Angst. Ich umarme es. Es war schlimmer, als ich 40 wurde. Mit 60 fühle ich mich nicht anders. Körperlichkeit und Beweglichkeit funktionieren noch. Klar, die Stimme hat sich verändert, sie ist tiefer, aber dafür ist die Persönlichkeit größer geworden. Und ich weiß das Leben heute mehr zu schätzen als vor 20 Jahren, als alles noch der Karriere geopfert wurde. Aber ich habe ein großartiges Leben. Jeder Tag ist ein Geburtstag. Und meine innere Flamme ist alterslos.

Sie haben schon mal eine Autobiografie geschrieben, und haben Sie jetzt wieder zurate gezogen. War das seltsam, sieht man alte Erinnerungen nun mit anderen Augen?

Anfangs habe ich mich gesträubt, noch mal eine Autobiografie zu schreiben. Ich wollte nicht noch mal diese Truhe mit Erinnerungen öffnen. Aber dann habe ich doch kurz in das Buch geguckt. In meinem Landhaus lag noch ein altes Exemplar in einer Kiste. Und habe doch weitergelesen und mich köstlich amüsiert. Über die verrückte Sprache, die ich hatte. Ich habe ja ganz unzensiert geschrieben, man hat mir alles durchgehen lassen. Einige Passagen waren allerdings etwas peinlich. Aber ich habe mich sehr in dieser jungen Ute wiedergefunden. Und fand faszinierend, wie dieser junge Mensch da am Schnittpunkt seines Lebens stand, nach zehn Jahren intensiver Karriere. Jahre voller Beachtung, aber auch Missachtung, das waren große Triumphe, aber auch tiefe Fälle. Und dann wurde ich plötzlich Mutter. Das hat mein Leben völlig verändert.

„Ich wurde in Deutschland viel krasser behandelt als in jedem anderen Land“

Sie beschreiben sich als Zeitreisende. Das ist auch der Titel des neuen Buches.

So empfinde ich mich. Und ich dachte, wenn ich jetzt über meine 60 Jahre schreibe, muss auch was von der jungen Ute drin sein. Um das einmal Erlebte aus der Zeitfalte zu beobachten, musste ich also noch mal in diese junge Ute schlüpfen, aber das wollte ich koppeln an eine Reflexion der heutigen Ute. So wurde das zu einer Zeitreise, erst das macht das Buch interessant.

Im ersten Buch und in der ersten Hälfte des neuen geht es um Ihre traumatischen Erfahrungen in Deutschland. Im Ausland wurden Sie gefeiert, nur in der Heimat nicht. Nagt das noch an Ihnen oder hat sich das gelegt?

Es hat nicht an mir genagt, aber es hat mich traurig gemacht. Ich bin ja eine Nachkriegs-, eine Kaltkriegsdeutsche, die als Künstlerin immer wieder die deutsche Geschichte beleuchtet und ankratzt. Das wurde meine Mission. Die Geschichte von Marlene Dietrich erzählen, die Musik vertriebener jüdischer Komponisten wiederentdecken, die Lieder aus den Ghettos und Konzentrationslagern singen. Damit habe ich mich immer auseinandergesetzt und auch Wunden davongetragen. Und doch wurde ich in Deutschland viel krasser behandelt als in jedem anderen Land. Woher kommt das, wieso waren die Reaktionen so hart, warum scheint es unmöglich, sich zu entschuldigen? Ich habe versucht, eine Erklärung dafür zu finden. Das ist mir nicht unbedingt gelungen. Aber ich fand es wert, darüber nachzudenken.

„Ich bin immerzu in Deutschland, aber meist eingebettet in Europatouren“

Wie deutsch sind Sie? Werden Sie im Ausland immer wieder darauf gestoßen?

Das ist eine interessante Frage. Als Künstlerin lebe ich ja in einer Nische mit großem Repertoire. Es ist mir wichtig, das europäische und vor allem deutsche Liedgut zu repräsentieren und immer wieder zu erneuern. Aber meine Hauptidentität ist natürlich, dass ich deutsch bin. Und ich bin ja auch stolz auf diese Kultur. Dadurch war ich aber auch lange mit dem Klischee deutsche Frau behaftet. Das ging schon früh, in den 80ern los. Wenn man als Deutsche in Paris Karriere macht, wird man gleich etikettiert: als Powerfrau, als emanzipierte Femme fatale. Auch als Machtfrau, das fand ich doof. Aber ich sah immer die Verantwortung, deutsch zu sein, mich damit zu beschäftigen.

Wie oft sind Sie heute noch in Deutschland?

Ständig. Gerade erst war ich in Berlin. Im Juni gibt es dann eine Tour für das Buch. Außerdem gebe ich Konzerte, mache Fernsehshows und Serien. Ich bin also immerzu in Deutschland, aber meist eingebettet in Europatouren.

Corona-Lockdowns: „Der Drang zurück zur Bühne war ganz stark“

Ich habe mal auf Ihrer Website geschaut, wie oft Sie in der nächsten Zeit unterwegs sind, und mit wie vielen Programmen. Wie machen Sie das, woher nehmen sie die Kraft?

Ach, es ist schon deutlich weniger. Vor der Pandemie war es wirklich zu viel. Ich war da richtig froh, mal die Stopptaste zu drücken. Plötzlich konnte ich ein Leben führen, von dem ich manchmal geträumt habe: durchatmen, Zeit mit den Kindern verbringen, Bücher lesen, spazieren gehen. Eine Art Frührente. (lacht) Aber natürlich definiert man sich auch über den Beruf. Wir haben ja das Privileg, unsere Leidenschaft zu leben. Und da war auch immer die Paranoia, wann ist der Lockdown vorbei, wird es je vorbei sein? Und was macht das mit der Stimme, wenn du drei Monate nicht singst? Der Drang zurück zur Bühne war ganz stark. Und auftreten zu können, hat plötzlich viel mehr Bedeutung. Das weiß man jetzt anders zu schätzen.

Wissen Sie morgens immer, wo Sie gerade aufwachen?

Ich bin so viel unterwegs, dass ich mich manchmal wirklich orientieren muss, wo ich jetzt bin und wo das Badezimmer liegt. Aber das gehört zu diesem Nomadenleben dazu, daran habe ich mich gewöhnt.

„Ich habe viele wunderbare Momente erlebt, aber auch viele schlimme“

Marlene Dietrich hat Sie gewarnt, Sie sollten Ihr Leben geheim halten. Sie haben sich nicht daran gehalten! Oft sind Sie ja sehr persönlich. Überlegt man sich da genau, wie viel man von sich preisgibt?

Ich war schon sehr vorsichtig. Ich wollte auch niemanden verletzen. Aber die traumatischen Situationen in meinem Leben wollte ich schon benennen. Man kennt mich von der Bühne, ich werde auch oft in Artikeln porträtiert, aber das entspricht nicht unbedingt der Realität. Ich wollte nicht nur die Künstlerin zeigen, sondern auch den Menschen dahinter und wie dieses Menschsein mich als Künstlerin inspiriert. Diese Öffnung in neue Dimensionen war mir immer ganz wichtig. Vielleicht hat auch das mit dem Älterwerden zu tun, das man andere Sphären aktiviert. Das wollte ich beschreiben. Ich habe viele wunderbare Momente erlebt, aber auch viele schlimme. Aus denen geht man aber gestärkt hervor. Daraus habe ich erst eine Unabhängigkeit entwickelt, eine neue Emanzipation. Auch das wollte ich mitteilen.

Hat das auch eine therapeutische Funktion, wenn man so etwas auf-, wenn man es sich vielleicht von der Seele schreibt?

Wissen Sie, am liebsten hätte ich diese schlimmen Momente in einen Roman oder eine Novelle verpackt. Mit einer anderen, fiktiven Figur hätte ich noch viel detaillierter, aber auch freier sein können. Aber es sollte nun mal eine Autobiografie werden. Es ist ja nicht nur das Liedgut, da kommt die Kultur, das ganze Erbe hinzu. Dennoch solle man nicht glauben, dass ich immer das Innerste nach außen gekehrt habe. Ich habe das schon manchmal poetisiert. Es ist, wie wenn man ein Lied schreibt. Das soll schon an die Substanz gehen, aber immer überhöht. Ob das wirklich immer ganz privat und persönlich ist, ist dann nicht mehr sooo wichtig. Wichtig ist, was ich damit sagen will. Ein letztes Geheimnis aber soll bleiben.

Das Buch: Ute Lemper: „Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen“ Gräfe und Unzer, 336 Seiten, 26 Euro. Die CD: Ute Lemper: „Time Traveler“ (Jazzhaus Records): bereits im Handel