Hamburg. Die einst weltweit erfolgreiche Teenie-Band feiert ihren 20. Geburtstag nach. Drei Mitglieder erzählen, was sie mit Hamburg verbindet.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Band aus Teenagern, ja Kindern es zu weltweiter Berühmtheit bringt. Beispiele gibt es genug in der Popgeschichte, von den frühen Jackson Five bis zu den Hanson-Brüdern. Das Erstaunliche an der 2001 in Magdeburg gegründeten Band Tokio Hotel ist weniger der große internationale Erfolg zwischen 2005 und 2010, sondern dass die Brüder Tom und Bill Kaulitz, Georg Listing und Gustav Schäfer als Einheit sowohl den Irrsinn des Ruhms als auch nachlassende Popularität überstanden haben.
Ihren 20. Band-Geburtstag feierten die vier dieses Jahr nachträglich mit dem neuen Album „2001“, mit dem es auf Tour und am 18. Mai 2023 nach Hamburg in die Große Freiheit 36 geht. Das Abendblatt schaltete sich via Zoom und über mehrere Zeitzonen mit Tokio Hotel zusammen. Tom Kaulitz war verhindert – oder als „Musical Director“ der Band schlicht zu beschäftigt damit, den überbordenden Klangkosmos von „2001“ Clubkonzert-tauglich zu zaubern.
Abendblatt: Zu eurem aktuellen Album „2001“, benannt nach eurem Gründungsjahr, sagtet ihr, es hätte sich für die Band ein Kreis geschlossen. Wie ist das zu verstehen?
Bill Kaulitz: Wir haben zum ersten Mal seit vielen Jahren endlich wieder Zeit zu viert im Studio verbracht, konnten durch die Pandemie und die ausgefallenen Touren zusammen rumhängen, Bier trinken, Pizza essen und haben so auch zu unseren Anfängen zurückgefunden. Sowohl auf dem Album als auch als Band haben wir die Vergangenheit umarmt und mit vielen Dingen auch Frieden geschlossen.
Es gibt ja seit vielen Jahren die Magdeburg-Fraktion mit Georg und Gustav sowie die Los-Angeles-Abteilung mit Bill und Tom, die vorherigen Alben wurden zu großen Teilen getrennt entwickelt und aufgenommen. Hinterlässt das Spuren im Band-Gefüge?
Georg Listing: Grundsätzlich genießen wir immer die Zeit, die wir zu viert verbringen, wir sind nicht nur eine Band, wir sind eine Familie. Die letzten zwei Jahre ohne Deadlines Musik zu machen, waren schon besonders und haben viel Spaß gemacht. Das heißt jetzt aber nicht, dass wir uns davor fünf Jahre nicht gesehen haben. Wir haben eigentlich immer eine Standleitung, und es vergeht kaum ein Tag an dem wir nicht miteinander sprechen.
Aber in 20 Jahren seid ihr wortwörtlich erwachsen geworden, habt euch persönlich und musikalisch verändert. Kriegt man das noch gut unter einem Hut? „2001“ ist ja stilistisch eine sehr bunte Tüte geworden, von Rock bis Discopop ist alles dabei.
Bill Kaulitz: Das liegt natürlich auch daran, dass das Album in sehr langer Zeit entstanden ist, es ist eigentlich ein Best-of des Songwritings der letzten fünf Jahre, der Soundtrack unserer Leben. Wir hatten auch schon ein Album fertig, haben es aber verworfen und die Hälfte der Songs runtergeschmissen. „Dream Machine“ 2017 war schon nahezu ein Konzeptalbum, diesmal sind die Songs und auch die Zusammenarbeit mit den Gastkünstlern einfach passiert. Sehr planlos, sehr organisch. Wir verändern uns gern und finden nichts schlimmer, als sich zu wiederholen.
Tokio Hotel will beim Konzert in Hamburg auch Klassiker spielen
Wobei das beim Konzert in der Großen Freiheit 36 natürlich angesagt ist. Die Fans wollen auch die alten Hits hören!
Georg Listing: Das ist so schwer, ich habe großen Respekt davor, aus jetzt sechs Alben Songs auszuwählen. Man kann nicht allen gerecht werden. Wir haben natürlich tendenziell Bock auf die neuen Songs, aber werden natürlich auch Klassiker wie „Durch den Monsun“ in der Version von 2005 spielen.
Bill Kaulitz: Tom ist ja bei uns der Musical Director, der muss das ausbaden und hin- und herspringen zwischen Loop-Station, Gitarre, Drum-Solo mit Gustav. Und uns allen vieren macht es Spaß, viele Instrumente auszuprobieren. Wir haben große Ansprüche an musikalisch und visuell aufwendige Shows und bereiten diese dann drei Monate lang vor. Wir sind nicht gerade solch eine Band, die spontan noch mal auf die Bühne kommt. Bei uns ist es eher wie ein Zirkus. Alles ist präzise geplant.
Interessant ist, dass eure ersten beiden Konzerte in Hamburg in der Barclays Arena waren, anschließend im Docks. Die meisten jungen Bands beginnen umgekehrt, erst im Club, dann in der Arena. Was liegt euch näher? Blitzblanke, aber anonyme Halle oder hautnaher, siffiger Rockschuppen?
Bill Kaulitz: Also zumindest backstage sind uns Hallen lieber, da war es in einigen Clubs doch schmierig. Aber im Docks haben wir immer gern gespielt, ein geiles Venue und geile Shows. In der Color-Line-Arena … oder wie heißt die jetzt?
Die hat seitdem dreimal den Namen geändert und heißt jetzt Barclays Arena.
Bill Kaulitz: Ah. Aber in solchen Hallen hatten wir auch viele Shows, mit denen ich einfach nicht warm geworden bin. Also, ich kann mich da nicht entscheiden. Kurz vor Pandemiebeginn haben wir im Troubadour in Los Angeles gespielt, ein winziger Laden für 500 Leute, und die meinten, wir kriegen da gerade unsere Instrumente rein. Aber wir haben das volle Besteck reingezwängt, es war mega. Ich bin in solchen Läden immer völlig aufgeregt, während ich problemlos vor einer Million Menschen singen könnte. Ach, es macht beides Spaß.
Gustav Schäfer: Aber im kleinen Club bekommt man alles mit, da kann jeder Fehler des Bassisten fatal sein (allgemeines Gelächter).
Einer der gelungensten Songs auf „2001“ ist „Berlin“, als Hamburger ist man doch eifersüchtig. Ihr habt ja auch eine Weile hier und im Umland gelebt, warum habt ihr noch keinen Song über Hamburg geschrieben?
Bill Kaulitz: Ich liebe diese Stadt, meine Mutter lebt in Hamburg, und ich war kürzlich wieder länger da. Aber Berlin ist schon unser Band-Zuhause und die Stadt, auf die wir uns immer alle einigen können, auch wenn wir auf verschiedenen Kontinenten leben.
Gustav Schäfer: Und der Chef wohnt in Berlin.
Bill Kaulitz: Ja, Georg wohnt in Berlin.
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Was heute auffällt: 2005 bis 2010, als Tokio Hotel weltweit durch die Decke ging, waren auch die Jahre, in denen sich YouTube, Facebook, ähnliche Portale und Soziale Netzwerke etablierten. So konnten Fans und Bands näher und untereinander kommunizieren, Inhalte teilen und kommentieren. Aber es war auch die Geburt des Prinzips Shitstorm, Tokio Hotel hat polarisiert und viele Hass-Kommentare gesammelt. Wäre es euch lieber gewesen, früher bekannt zu werden?
Bill Kaulitz: Also, wir haben noch die geile Zeit von Popmusik mitgemacht, als es noch richtig Spaß gemacht hat. Da gab es noch kein Streaming, keine Smartphones. Du musstest noch vor der Halle und vor dem Hotel schlafen, um deinen Stars nahe zu sein. Aber gleichzeitig war das auch eine Scheißzeit, damals war es noch cool, 15-Jährige, 16-Jährige mit Eiern und Bierflaschen zu bewerfen, und das haben wir auch voll abbekommen. Heute könntest du keine Kinderband mit Gegenständen bewerfen, ohne im Netz öffentlich bloßgestellt zu werden. Wenn wir gefragt werden, wie wir mit negativen Kommentaren umgehen, antworten wir: Es könnte uns nichts weniger interessieren, wir wurden mit Messern bedroht, hatten Polizeischutz und Demonstrationen bei unseren Konzerten, da interessiert es uns doch nicht, ob jemand bei Instagram schreibt, dass wir scheiße aussehen. Wir kommen aus einer ganz anderen Grundausbildung und haben ein entsprechend dickes Fell.
Georg Listing: Man kann die Zeit von damals überhaupt nicht mit heute vergleichen. Aber ich bedaure, wie schnelllebig Kunst und das Drumherum geworden ist. Die Menschen hören nur noch in wenigen Sekunden TikTok-Länge zu, das Bedürfnis, Musik und Kultur bewusst und in voller Tiefe zu erleben ist in der Breite verloren gegangen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich das wieder umkehrt.
Gustav Schäfer: Ich bin sogar noch CD-Käufer, auch wenn ich natürlich streame. Ich finde es aber schade, dass viele Künstler sich mit dem, was sie über Streaming einnehmen, nicht mal eine CD kaufen könnten – höchstens eine ganz miese im Sonderangebot. Aber davon vielleicht sogar gleich zwei.
Tokio Hotel Do 18.5.2023, 20.30, Gr. Freiheit 36, Karten zu 62,- (Vvk.); www.tokiohotel.com