Chor-Serie, Teil 2: Der Blue Voice Kinder- und Jugendchor tauscht die Schule regelmäßig gegen die ganz große Showbühne, etwa bei Auftritten mit Lotto King Karl und Roger Waters.

Hamburg. Vor zwei Jahren, da kämpften sie gegen eine riesige Lehrerpuppe. Als Roger Waters, einst Bassist von Pink Floyd, im Juni 2011 mit seinem sozialkritischen Rockspektakel „The Wall“ an zwei Abenden in der Hamburger O2 World gastierte, sang der Blue Voice Kinder- und Jugendchor auf der Bühne vor jeweils 12.000 Menschen den wütenden Aufschrei der nächsten Generation: „We Don’t Need No Education.“

Ganz ohne Erziehung geht es zwar nicht in der Stadtteilschule Fischbek-Falkenberg. Aber herrische Autoritäten, gegen die es zu revoltieren gilt, sind Daniela Steigel und Gesine Krüger gewiss nicht. Seit Januar 2009 animieren die beiden Lehrerinnen Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis 16 Jahren zum Singen. Mehr als 120 sind es mittlerweile, die lernen, welches Potenzial in ihrer Stimme steckt. Und in ihnen selbst. „Wir haben Kinder dabei, die haben anfangs kaum einen Mucks gesagt, und jetzt stellen die sich selbstbewusst vor ein Publikum“, sagt Steigel. Und wer ihre Kollegin und sie bei einer Probe mit einer der kleineren Blue-Voice-Gruppen erlebt, der weiß, warum die Teenager beherzt mit einstimmen.

„Genießt das mal, dass ihr das machen dürft“, sagt Krüger in die Runde. Die Sechst- bis Achtklässler recken sich, lassen den Körper dann wieder fallen. Lockerungsübungen, um die Schulmüdigkeit aus den Gliedern zu schütteln. Alle tragen blaue Poloshirts, auf denen der Name des Chors eingestickt ist. Doch die individuellen Insignien der Pubertät sind allgegenwärtig. Gelb angemalte Fingernägel und pinke Schnürsenkel, Zahnspangen und verträumte Blicke, die blitzschnell in Euphorie umschlagen können. Ein Mädchen trägt beide Arme in rotem Gips. Ihre Kreisnachbarin hat ihre Haut mit Filzstift bemalt. „Ha Ha Ha Ha Ha“ rufen sie alle und halten ihre Hände vor imaginäre Bäuche. „Der dicke Sänger“ heißt diese Übung.

Beim Einsingen fordern Steigel und Krüger die Fantasie. Da summen unsichtbare Bienen durch das Musikzimmer mit Blick ins Grüne, Hunde bellen, eine Fahrt im Dom-Riesenrad startet mit einem lautstarken „brrr“ aus allen Mündern, Raketen steigen sausend und mit heftigem Fußgetrappel auf. Nach wenigen Minuten ist das Ziel erreicht. Rund 30 Mädchen und sechs Jungs haben ihre Stimmbänder aufgewärmt und intonieren ihre Variante von Oasis’ Britpop-Hymne „Whatever“.

„I'm free to say whatever I/Whatever I like“ tönt es in harmonischer Vehemenz. Frei sagen, was man möchte. Nicht das schlechteste Motto. Bei manchen geht die Liebe zum expressiven Ausdruck sogar in eine Art Dauerkunst über. „Singen ist mein Leben. Ich singe überall, viel in meinem Zimmer. Das müssen meine Eltern aushalten“, sagt Nadine Riepen und wischt ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht. „Ich finde es toll, dass das Angebot freiwillig ist und nicht mit in die Schulnote eingeht“, sagt die 14-Jährige. Singen unter Druck klingt krampfig.

Wie ansteckend die mehrstimmige Energie des Vokalen hingegen sein kann, zeigen die zahlreichen Auftritte, die Blue Voice bereits hingelegt hat. Dann wird der Schul- zum Show-Chor, der Lotto King Karl im Stadtpark bereits ebenso verstärkt hat wie die Kelly Family in der O2 World. Beim Sommerfest des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff hat das Ensemble schon gesungen. Und bei der Abendblatt-Aktion „Kinder singen für Kinder“ im Michel. Als nächstes großes Ding unterstützt Blue Voice den Reggae-Künstler Patrice, wenn der TV-Sender Arte am kommenden Montag im Mojo-Club für seine Doku-Reihe „Summer Of Soul“ ein Konzert mit zahlreichen Größen des seelenvollen Gesangs aufzeichnet.

„Das macht mir megamäßig Spaß“, sagt Fabian Jubel über die Live-Atmosphäre. Der 13-Jährige war Anfang des Jahres auch mit in London, als Blue Voice als bisher einziger ausländischer Kinderchor zum Großkonzert „Young Voices“ eingeladen wurde und mit zahlreichen jungen Talenten aus England vor 20.000 Zuschauern sang. Um diesen Geist nach Hamburg zu transportieren, haben die Kids auch die Popnummer „Power In Me“ des „Young Voices“-Projekts eingeübt. Bei der Probe legen sie die Hände auf die Brust und singen von der Kraft, die von innen kommt. Dann heben sie die Rechte zur Faust geballt empor, anfangs noch etwas zaghaft. „Ihr seid so brav, aber jetzt dürft Ihr die Power mal so richtig rauslassen“, sagt Gesine Krüger. In ihren Ansagen schwingt die Ambition ebenso mit wie Fürsorge. Mit wippenden Knien dirigiert die 54-Jährige, während ihre 31-jährige Kollegin Steigel am Piano impulsiv die Melodie spielt. Das Wichtigste ist jedoch die Stärke, die in den Stimmen zu strahlen beginnt.

Dieser volle Sound ist der Lohn für ein Engagement, das weit jenseits vom verbeamteten Dienst nach Vorschrift liegt. Und für das das Pädagogen-Duo 2012 mit dem Hamburger Lehrerpreis ausgezeichnet wurde. „Wir sind ja auch total verrückt, wir verbringen die Abende und zum Teil die Ferien mit den Kids“, sagt Gesine Krüger, die neben Musik noch Technik unterrichtet. Gemeinsam mit Steigel, die zudem die Fächer Mathe und Englisch lehrt, bildet sie viel mehr als ein schulisches Team, das „ganz nebenbei“ Werte wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit vermittelt. Die zwei sind Booking-Agentur, Bus- und Catering-Organisatorinnen, Mentoren sowie Kummerkasten. Sie telefonieren fast täglich nach der Schule miteinander, sprechen mit Agenturen und informieren die Eltern über weitere Aktivitäten. „Wir wollen den Kindern Anreize bieten. Sonst wären einige vielleicht nicht mehr dabei“, sagt Krüger. Denn auch ein Chor muss mit Facebook und Freizeitprogramm konkurrieren. Aber kaum etwas erreicht die Gefühle so intensiv wie das Singen. Die 14-jährige Julia Honoré fasst den Chor-Effekt gut zusammen: „Manche Lieder machen mich ein wenig traurig und andere, die machen mich glücklicher.“

Info: www.bluevoice-hamburg.com