Abendblatt suchte Hamburger Chöre, die begeistern. Wir stellen sieben Gruppen vor. Heute: der Mendelssohnchor. Aufführung des Chors im Video.
„Nach dem Singen bin ich einfach glücklicher“, sagt Cornelia Zimmermann. Und das belustigte wie beseelte Lächeln, das sich dann in ihrem Gesicht ausbreitet, ist keines, das sich künstlich aufsetzen lässt. Es kommt von innen.
So wie die 41-Jährige haben Tausende Hamburger das gemeinsame Singen im Chor als ultimative Glücksressource für sich entdeckt. Nicht nur Filmerfolge wie „Die Kinder des Monsieur Matthieu“, „Wie im Himmel“ oder jüngst „Song for Marion“ zeigen mit viel Herz, dass sich im Gesangsverein soziale Hürden ebenso überwinden lassen wie innere Blockaden. Auch in der Hansestadt lässt sich Woche für Woche und Tag für Tag in den Stadtteilen erleben, wie Menschen bei Klassik, Kirchenmusik und neuen Werken, bei Gospel-, Pop- und Rocksongs in Harmonie zusammenfinden. Grund genug für das Abendblatt, die Szene mit einem Wettbewerb vorzustellen. Gesucht wurden „Hamburger Chöre, die begeistern“. Und das taten sie!
Mehr als 50 Ensembles bewarben sich mit liebevoll gestalteten Videos, die nicht nur eindrucksvoll stilistische Vielfalt demonstrieren, sondern vor allem eines: Freude. Die Redaktionsjury war so überwältigt von der klanglichen und emotionalen Fülle der Einsendungen, dass sie nach langem Beratschlagen statt fünf nun sieben Gewinnerchöre ausgewählt hat.
Alle Preisträger werden mit einem Porträt im Kulturteil des Abendblatts sowie mit einem Film auf abendblatt.de vorgestellt. Den Beginn macht der Chor, in dem Cornelia Zimmermann seit fünf Jahren im Sopran singt: der Mendelssohnchor Hamburg aus Barmbek-Süd.
Frauen und Männer schleudern ihre Arme um ihre Brustkörbe, als seien sie aus Gummi. Mit jeder Drehung stoßen sie ein kräftiges „Pfff“ aus, dann ein sattes „Oh“, gefolgt von einem inbrünstigen „Ah“. Die Tische in der Aula der Hauswirtschaftsschule an der Uferstraße haben sie flugs beiseitegeräumt. Wie jeden Donnerstag. Ein Raum voller Resonanzkörper. Sich aufrichten, atmen, ankommen. Das ist das oberste Ziel beim Einsingen.
„Unten herum ist alles locker, da könnt ihr Hula-Hoop tanzen“, sagt Chorleiterin Almut Stümke, die auf der Bühne steht und zur Anschauung ihre Hüften im mintfarbenen Kleid kreisen lässt. Mit der schmalen Brille und dem glatten, kurzen Haar macht die 38-Jährige auf den ersten Blick einen zurückhaltenden Eindruck, wie sie da in ihren Ballerinaschuhen leise zur Rampe läuft, um ihre Anweisungen zu geben. Doch wer die studierte Kirchenmusikerin erlebt, wie sie ihre 90 Sängerinnen und Sänger dirigiert, anfeuert und auch mal ermahnt, der wird schnell eines Besseren belehrt.
Nicht nur die Stimmgabel, die ihr um den Hals hängt, macht deutlich, wer beim Mendelssohnchor das Sagen hat. Stümke beherrscht die große Kunst, die Runde mit einer sanften Strenge anzusprechen und eine feine Ironie unterzumischen. Immerhin gilt es, den älteren Herrn mit Glatze ebenso zu erreichen wie die junge Frau im Pünktchenkleid. Und zum Aufwärmen ist trotz der Gruppendynamik durchaus Individualität gefragt: „Versucht mal, nicht den Ton der Nachbarin zu singen, sondern euren ganz eigenen Lieblingston“, fordert Stümke auf. Was dann erklingt, ist ein atonaler Sound, der vor Energie sprüht. Eine Kraftquelle, die auch Sabine Reddehase jede Woche wiederkommen lässt.
Die pensionierte Lehrerin ist seit der Gründung des Mendelssohnchors im Jahr 1997 mit von der Partie. Sie durchlebte mit einem „versprengten Häufchen von 20 Leuten“ auch die Krisenzeit des Ensembles, als der ursprüngliche Chorleiter Hans-Joachim Lustig Anfang der Nuller-Jahre seinen Abschied ankündigte. „Was passiert mit uns?“, lautete damals die Frage, bis sich Stümke 2002 als Nachfolgerin vorstellte. „Wir waren alle zunächst etwas skeptisch, aber Almut war direkt so fröhlich und menschlich. Sie hat eine tolle Art, uns Mut zu machen“, sagt Reddehase, eine zierliche Frau mit grauem Pagenkopf. Eine Friedenstaube steckt an ihrer grünen Hemdbluse.
Ganz bewusst hat sich die 67-Jährige dafür entschieden, nicht in einem Seniorenchor zu singen. „Mir macht das Spaß mit den jungen Leuten“, sagt sie. Und in einem sehr zufriedenen Tonfall ergänzt sie: „Der Chor ist ein ganz fester Bestandteil meiner Lebensgestaltung.“ Ihre Schwester Petra steht in der Altstimme an ihrer Seite. Und als deren Mutter, langjähriges Fördermitglied des Chors, im vergangenen Jahr starb, sangen die musikalischen Weggefährten auf der Trauerfeier. „Das hat uns sehr bewegt. Der Chor trägt einen“, sagt Reddehase. Eine Gemeinschaft, die durch dick und dünn geht.
Von Anfang 20 bis über 70 reicht das Alter der Vereinsmitglieder, etwa ein Viertel sind Männer. Viele feste Freundschaften sind über die Jahre hinweg ebenso entstanden wie einige Ehen, unter anderem Stümkes eigene. „Heute muss der Tenor das Baby hüten“, sagt sie und grinst.
13 Euro im Monat kostet der Chor, viele zahlen mehr, Arbeitslose weniger. „Die Doktorandin singt neben der Krankenschwester“, sagt Stümke. Und in ihrer Stimme schwingt Stolz mit, wenn sie die Unterschiede der Gruppe betont, deren Stimmen dann doch wieder ein Gesamtkunstwerk ergeben. Zum Beispiel beim „Kyrie eleison“.
„Das Kyrie ist nicht nur ein ‚Herr, erbarme dich‘. Es ist die Anrede an den Herrscher. Also stellt euch vor, ihr wollt jemandem sagen: Ich finde dich toll!“, beschreibt Stümke anschaulich, mit welcher Haltung das Stück zu intonieren ist. Und nachdem sie ab und an das Tempo korrigiert hat, nachdem sie die besonders gebundene Vortragsweise des „legato“ eingefordert hat, vollzieht es sich nach und nach: das Chorwunder. Wenn jeder Einzelne mit seinen persönlichen Fähigkeiten auf einmal ganz gefordert, ganz präsent ist und dennoch mit dem Ganzen verschmilzt. Wenn die Sängerinnen und Sänger mit geradem Rücken dasitzen, ihre Notenmappen vor sich und die Töne fließen lassen, dann ist eine Verwandlung zu sehen. Die Gesichter nehmen eine Spannung an, ein Strahlen. Und es ist eine gewisse Spiritualität zu spüren. Auch wenn Stümke betont, dass sie kein christlicher Chor sind.
Im Laufe seines Bestehens hat sich der Mendelssohnchor ein Repertoire ersungen, das von Motetten seines Namensgebers über Brahms’ Liebeslieder-Walzer bis hin zu Bachs Weihnachtsoratorium und Carl Orffs „Carmina Burana“ eine große Bandbreite abdeckt. 2010 erarbeitete Stümke unter dem Titel „Rausch“ ein Konzert mit Trinkliedern verschiedener Epochen. 2012 waren sie auf Kampnagel an der Uraufführung von Jan Dvoraks „Leviathan“ beteiligt. Und im vergangenen Herbst studierte der Mendelssohnchor „Der Gebrauch des Lebens“ ein, eine Ode des norddeutschen Komponisten Peter Heeren. Für Katrin Schillinger, die erst seit einem Jahr dabei ist, war es „besonders bereichernd“, dass Heeren mehrmals beim Probenprozess zu Gast war. „Mozart kann man schließlich nicht mehr fragen, wie er zu verschiedenen Fassungen seines Requiems steht“, sagt die 36-jährige Sopranistin.
Für Schillinger zählen die vier bis fünf großen Auftritte im Jahr zwar zu den Highlights im Chor-Leben. Doch vor allem genießt sie das regelmäßige „Auftanken“. Manchmal, da denke sie: „Puh, jetzt nach der Arbeit noch zum Singen.“ Aber, so sagt sie dann: „Das ist eine Konzentration, die entspannt.“
Mendelssohnchor live: Sa 8. Juni, 15.22 Uhr, St. Petri (Nacht der Chöre); eine CD u.a. mit „Der Gebrauch des Lebens“ von Peter Heeren ist für 8 Euro zu bestellen unter: cd@mendelssohnchor-hamburg.de; www.mendelssohnchor-hamburg.de