Hamburg. Nach dem fröhlichen Überraschungshit “Der Pfau“ legt die Hamburgerin Isabel Bogdan einen wunderbaren Depressionsroman vor.

Was darf man von einem Buch erwarten, das den Titel „Laufen“ trägt? Mindestens eine Heldin, die in irgendeiner Weise zu Fuß unterwegs ist. Besser noch, sie rennt. Oder, wie es auch hübsch sinnlos heißt: Sie geht joggen. Wie angeblich fünf Millionen Menschen in diesem Land. Man kann Beobachtungen von hohem Wiedererkennungswert machen, wenn man laufen geht. Und in „Laufen“, Isabel Bogdans neuem Roman, findet man eine hübsche Anzahl jener ungeschriebenen Freizeitsport-Gesetze und allzu wahren Klischees. Beispielsweise die Läufer-Typologie, vornweg: „der Verbissene“.

Jenes Modell des Läufers will immer allen davonrennen und schaut dabei alle zwei Sekunden auf seine Uhr. Die Erzählerin in Bogdans Roman ist der Gegenentwurf. Das verrät der Anfang des Textes, der selbst wie eine große Anstrengung ist: „Ich kann nicht mehr. Das ist natürlich Quatsch, ich bin gerade erst losgelaufen, aber schon an der Ampel glaube ich, ich kann nicht mehr, nach nicht mal hundert Metern. Meine Beine sind wie Sandsäcke, bin ich wirklich jemals länger gelaufen?“

So hebt dieser mäandernde, atemlose und in langen Satzdistanzen geformte Text also an. Was wie der allgemeine Zustand gerade wieder in die sportliche Aktivität Einsteigernder anmutet, ist tiefengrundiert. Das „Ich kann nicht mehr“, die „Sandsäcke“, die sie am Laufen hindern, sind Beschreibungen der ganzen Lebensphase, in der sich die Hauptfigur des Romans befindet. „Laufen“ ist kein Buch über den Sport, es ist eines über das Leben und den Tod, über die Lebenskrise, in die jemand gerät, wenn Leben und Tod kollidieren.

Nach dem fröhlichen "Pfau" nun ein Depressionsroman

Der Lebensgefährte der Erzählerin hat sich umgebracht. Das ist das eigentliche Thema des Buchs: der Versuch einer Bewältigung, kreisend zwischen den Polen Schuld und Anklage, sich dabei stets wiederholend, wie die Laufrunde im Park oder um das Wasser. Die Hamburger Schriftstellerin und Übersetzerin Isabel Bogdan verblüfft dabei mit einer ambitionierten Entscheidung; sie unterläuft mit „Laufen“ mutig alle vermeintlichen Erwartungshaltungen. Nach ihrem 300.000-mal verkauften Überraschungshit „Der Pfau“, der ein ausgesprochen fröhliches Sujet hatte, ging es ihr nicht darum, dies zu kopieren. Was nicht heißt, dass der neue, der Depressionsroman, nicht auch hin und wieder komisch wäre, im Gegenteil. Er vollbringt das Kunststück, das Bemühen eines Menschen zu schildern, vom Dunkel in hellere Gefilde vorzustoßen, die Lebenslaufkatastrophe hinter sich zu lassen, ohne dabei je ins Ratgeberhafte abzugleiten. Alles andere als eine schlechte Idee, sich dabei dem Leitmotiv des Laufens zu bedienen.

Die Protagonistin ist Musikerin, spielt in einem Hamburger Orchester Bratsche und zusätzlich in einem Quartett. Im Takt der Läufe, die sie unternimmt, rekapituliert sie ihr Leben vor und nach dem Selbstmord des Gefährten. Sie schüttet dem Leser ihr verwundetes Herz aus; der wiederum begleitet sie auf ihrem Weg der mentalen Genesung. Der gedankliche Therapie-Zirkel beschreitet wieder und wieder das unwegsame Gelände der eigenen Verstrickung in das bedauernswerte Schicksal des Freundes, der eine Oldtimerwerkstatt betrieb. Es sind die unproduktiven, niederdrückenden Überlegungen, in denen sie sich gefangen sieht; aber es muss eben alles auf den Tisch, alles einmal gedacht, verworfen und wieder gedacht werden.

Dabei kommt die Erzählerin über die vermuteten Leerstellen im Leben des depressiven Freundes immer wieder zu sich selbst: zur verpassten Mutterschaft insbesondere. Hätte ein Kind ihren Lebensgefährten gerettet? Hätte ihn die Beendigung der Beziehung gerettet? Sie weiß aber im Grunde, dass Depressive an einer Krankheit leiden. Sie weiß, dass sie ihn nicht wirklich retten konnte. Sie trägt die Schlafanzüge des Toten, und sie adressiert ihn immer wieder direkt in ihrem Monolog: „Dachtest du echt, ich würde darüber hinwegkommen?“

Der Name des Verstorbenen als letztes Wort

„Laufen“ ist die psychologisch nachvollziehbare Schilderung eines Neustarts, der allein mit der Durcharbeitung des Traumas zu bewältigen ist. Der Roman ist übrigens klar in Hamburg angesiedelt, und deshalb ist auf dem Weg zur seelischen Gesundung der bewältigte Zehn-Kilometer-Alsterlauf („Da ist bereits das Literaturhaus, wo du nie mit mir hinwolltest, weil du keine Romane gelesen hast und nur ein einfacher Handwerker warst“) ein dramaturgischer Höhepunkt.

Der Bewusstseinsstrom entbehrt dann nicht der Komik, wenn er, angestoßen von flüchtigen Begegnungen der trauernden Läuferin, so disparate Dinge wie Katzen, überparfümierte Frauen und übergriffige Männer streift. In diesen Momenten bricht sich die Wut der Erzählerin Bahn. Es ist nicht selten der Thomas-Bernhard-Furor, der dann zu vernehmen ist. Womit die literarische Referenz genannt wäre, die bei den weit ausgreifenden, den kunstvollen Langsätzen – die rhythmische Qualität dieses Textes! – mit den vielen Verschachtelungen, unweigerlich in den Sinn kommt. „Ein, ein, ein, aus, aus, aus“, heißt es viele Male. Wer atmet, lebt.

Einen neuen Mann darf die Erzählerin irgendwann zwar auch kennen lernen. Natürlich beim Laufen. Aber der Schluss ist dem vorbehalten, der nicht mehr da ist, und sein Name wird endlich genannt, er ist das letzte Wort dieses wunderbaren, sensibel gearbeiteten, ergreifenden Romans.

Isabel Bogdan liest am 1.10. im Literaturhaus, 19.30, 12,-/8,-, Julia Westlake moderiert, www.literaturhaus-hamburg.de