Hamburg. Das Buch „Auf dem Seil“, der Abschluss der Darius-Kopp-Trilogie, ist ganz hervorragend. Autorin liest im Literaturhaus.

Psychische Zustände zeigen sich nicht selten im Essverhalten. Darius Kopp zum Beispiel, die wohl-, aber längst noch nicht sattsam bekannte Romanfigur, nimmt auf seiner langen italienischen Reise erst einmal ab. An die 20 Kilogramm, „dank der Ofenhitze und viel eisgekühlten Wassers“. Er ist Pizzabäcker, und es gibt auch eine andere Form der sizilianischen „Diät“: Die Kleinstadtjugend von Catatania wird vom vielen Pizzaessen ganz teigig.

Darius Kopp aber hat zwei Jahre lang nur Wasser getrunken. Keine Cola, kein Alkohol, auch wenn er, der eigentlich kräftige und rund im Leben stehende Berliner IT-Experte, beides sonst mag. Der Verzicht ist eine Handlung aus Trauer: Seine Ehefrau Flora ist gestorben. Zuerst fuhr er mit ihrer Urne in Osteuropa herum. Über Griechenland landete er dann in Italien. Dort verstreut er sie am Fuße des Ätna. Das erfahren wir in Terézia Moras neuem, hervorragendem Roman „Auf dem Seil“. Er ist der Abschluss der Darius-Kopp-Trilogie.

Unwahrscheinlicher Romanheld

In der haben wir Kopp, diesen zunächst einmal so unwahrscheinlichen Romanhelden, mit knapp 40 kennengelernt, als er auf seinem Lebenslaufhöhepunkt war. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (erschienen 2009) porträtiert anschließend aber einen Mann als Globalnomaden, dessen Ehe zu scheitern droht – und der seinen Job verliert. In „Das Ungeheuer“ (2013) steht er dann vor den Scherben seiner Existenz. Seine Frau hat sich umgebracht, und er ahnte kaum je etwas von ihren inneren Dämonen.

Für jenen zweiten Band, der insbesondere die Perspektive Floras in den Mittelpunkt rückte, erhielt die in Ungarn geborene Berlinerin Mora den Deutschen Buchpreis. Seit sie im vergangenen Jahr den Büchner-Preis zuerkannt bekam, gehört sie erst recht zur ersten Riege der deutschsprachigen Autorinnen und Autoren. Nun also „Auf dem Seil“, der würdige dritte, abschließende Band.

Völlig unsentimentale Erzählerin

In diesem muss, der Dynamik des menschlichen Gefühlshaushalts folgend, Kopp die emotionale Erstarrung überwinden. Äußerlich zeigt sich das durch einen wiedergefundenen Appetit: Der Leser erlebt Kopp, der mittlerweile 50 ist, und seinen Heißhunger auf Mortadella und Oliven. Und er wohnt der Wiederkehr des Bierdurstes bei. Der muss wohl auch einfach zurückkommen, denn nach dem Vorspiel in Italien trifft man Kopp in „Auf dem Seil“, jener Hommage an mittelalte Menschen ohne Plan, wo an? Wieder in Berlin, genau. Dort versucht der selbst ernannte „Zeitmillionär“ neu anzudocken, er zieht buchstäblich durch die Stadt, von Wohnprovisorium zu Wohnprovisorium.

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Dabei ist er nicht allein. Seine Nichte ist bei ihm, sie trägt den wunderbar aus der Zeit gefallenen Namen Lorelei, ist 17 Jahre alt und schwanger. Damit stellt die im Übrigen weiterhin völlig unsentimentale Erzählerin Mora ihrem Protagonisten eine originelle Aufgabe. Er muss sich um eine Minderjährige kümmern, die zum einen zarte Bande zu einem nordafrikanischen Pizzabäcker geknüpft hat, den sie bereits in Sizilien kennenlernte. Zum andern ist es die Unberechenbarkeit der Ausreißerin, mit der er zu kämpfen hat. Sie macht es wie er einige Jahre zuvor: Kapselt sich von der Familie ab, meldet sich nicht. Diese Idee des Einzelgängertums hat Kopp selbst nun abgelegt.

„Auf dem Seil“ ist die Rückkehr nach dem Trip, zu Freunden und Familie – von denen freilich niemand mehr auf ihn gewartet hat. Köstlich die Szenerie, die Mora ihrem Kopp in der brandenburgischen Provinz bereitet, wo Kopps Mutter grummelnd ihr Essen-auf-Rädern vertilgt, während der nicht weniger grummelige Sohn ausnahmsweise mal nichtessend danebensteht. Es ist alles wahnsinnig banal und schlicht und entschlackt: nirgendwo irgendein Pathos des sozialen Comebacks. Die Figuren der Sizilien-Bewohner (einen tauft Kopp wegen dessen Herkunft „Itzehoe“) und Berliner Zeittotschläger, also der gesamten Kopp-Peergroup, sind mit bewundernswert leichter Hand und nur den nötigsten Strichen gezeichnet. Kurioserweise ist dies gerade deswegen ein erträglicher Berlin-Roman, weil Berlin hier exakt so stoffelig ist wie die Hauptfigur.

Tröstender Schlussakkord

Die ist deswegen psychologisch zwingend angelegt, weil sie zwischen Wiedererlangung der bürger­lichen Existenz und Verlängerung des Unbehaustseins schwankt. Während er versucht, mithilfe eines Anwalts seine Berliner Finanzen zu regeln, skyped Kopp mit Irland, um dort einen neuen Job zu bekommen. Ausweichmanöver erlaubt er sich derweil nicht, wenn es um das Mädchen geht. „Wenn ich sie verliere, bin ich geliefert“, sagt er einmal. An Flora, die Liebe seines Lebens, denkt er kaum noch. Er bindet sich, auf manchmal verquere Weise, an seine Nichte.

Terézia Mora: „Auf dem Seil“, Luchterhand Literaturverlag, 368 Seiten, 24 Euro
Terézia Mora: „Auf dem Seil“, Luchterhand Literaturverlag, 368 Seiten, 24 Euro © Unbekannt | Unbekannt

Der Roman setzt insgesamt einen tröstenden Schlussakkord für eine mit existenzieller Schwere beschäftigter Trilogie. Sie endet mit einer Selbsterklärung Kopps, die man ganz leicht auch gesellschaftspolitisch lesen kann: „Ich bin nur mäßig bitter und zumindest bemühe ich mich, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen und niemanden zu hassen, weder einzelne noch Gruppen. Sag nicht, das wäre nichts.“ Dabei ist Kopp eigentlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das große Ganze im Blick zu haben.

Hier spricht also eher die Autorin, der mit „Auf dem Seil“ ein widerborstiger, stacheliger Familienroman gelungen ist. An die Stelle des Todes, der den Kopp-Romanen so deutlich ihr Gepräge gab, tritt eine Geburt.

Terézia Mora stellt ihren Roman am 11. September im Literaturhaus vor, Beginn: 19.30 Uhr, Karten 12,-/8,-